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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Sébasto?
    Aber ich brauche Annie, weil ich Julien brauche. Allmählich fange ich an, mich bei den Leuten auszukennen, von denen er mir erzählt, aber ich weiß keine einzige Adresse, keinen Namen, der nicht ein Spitzname oder eine Koseform ist, ich habe nichts, um ihn zu erreichen. Außer Annie.
    Julien reißt den Nebel für kurze Zeit auf; mit geschwollenen Lippen dringe ich an seiner Seite in sein Leben ein. Dann ist er wieder verschwunden, und ich wende mich dem blassen Tag zu, suche nach dem, was ihn fortgetragen hat und mir verschlossen bleibt.
    Ich lehne mich an das Metrogitter und zähle das Kleingeld in meiner Tasche, in Ordnung, genug Münzen für eine Fahrkarte.
    Als ich wieder an die Oberfläche komme, springt mir jedes Detail dieses Viertels ins Gesicht, sogleich vertraut. Von diesen Geschäften kenne ich jedes Schaufenster, jedes Ladenschild in großen oder kleinen Buchstaben, ich weiß, welche in der Einsamkeit der Winterstraßen blinken und die Nacht ankündigen. Die Jahre drehen sich zurück, ich bin sechzehn, ich schlendere in meinen Espadrilles die Straße entlang, und so, mit meinen Haaren ohne Spange und der nackten Brust unter dem Pullover, schwebe ich wie die Zigeunerin auf der Gitanes-Schachtel über den Wolken. Paris liebkost mich mit tausend Blicken, bietet sich an, wie ich mich anbiete.
    »Ich bin schließlich ein freier Mensch! Zisch ab, sag ich dir.«
    »Warum denn, böse Französin, warum bist du gemein?«
    Sieh an, die Berber mit ihren schmelzenden Honigaugen sind immer noch da, ebenso die Entschlossenen, »Geh vor, ich komm nach«, und die kleinen und die großen Alten, die Rausgeputzten und die in Blaumann. Was ist der Unterschied zwischen diesen und jenen, denen von heute, die neben, vor und hinter mir laufen und flüstern: »Wollen Sie was trinken?«
    Man trank was, stellte sein Glas hin, kam zehn Minuten später wieder … Ich weiß nicht mehr, trau mich nicht mehr.
    Manchmal winkte mir einer meiner Aperitifgefährten hinter seinem Calvados zu. Von der Terrasse aus betrachteten wir die Welt, die Ansammlung, die sich allmählich vor der Tür bildete: Männer, die ein paar Meter auf und ab liefen, kleine Sarabande in der großen. »Ich glaube, Sie werden erwartet«, sagte mein Begleiter, »ich will Sie nicht aufhalten.«
    Meine Eskorte von vorher macht sich wieder ran, schart sich um mich. Aber ich laufe, ohne langsamer zu werden, starre nach unten, ich habe Angst. Wenn ein Bulle dabei ist, wenn … Komm schon, Anne, guck hoch, such dir aus, greif noch mal zu …
    »Nur für einen Moment?«, fragt das Etagenmädchen, das mich nicht wiedererkannt hat.
    Der Riegel. Das Fallen der ersten Kleider, die Pause: Ach ja, dein kleines Geschenk, ist es das? Das ist es.
    Ich bin abwesend, gehorsam, denke an nichts. Ich komme nicht mal zu spät zum Essen.
    Und ich werde nie mehr auf Annies Hosentasche starren.
    Am nächsten Tag lasse ich sie ungewollt ganz schön alt aussehen. Sie schickt Nounouche Brot kaufen, gibt ihr einen Tausender und sagt: »Pass auf, dass du ihn nicht verlierst, es ist der letzte.«
    Nounouche wühlt im Schlafzimmer rum.
    »Was stellst du jetzt wieder an?«, ruft Annie.
    »Eine Minute, Maman, ich hole mein Tragebaby …«
    Und sie taucht zwischen unseren Krawattenhaufen auf, schwenkt in einer Hand die Griffe ihrer Puppentragetasche und in der anderen einen Fünftausender:
    »Und der hier, Maman, weißt du nicht mehr, dass du den versteckt hast?«
    Das ist ein Tanz! Nounouche brüllt mit schmerzendem Hintern und aufgerissenem Mund. Annie, bleich vor Wut, atemlos vom Prügeln, versucht mir den Ursprung (»vom Lohn abgeknapst«) und die Bestimmung (»das Weihnachtspaket für Dédé«) der so unpassend aufgetauchten Piepen zu erklären.
    Von jetzt an kratzt mich das alles nicht mehr. Ich kaufe, was mir gefällt, komme beladen mit Paketen nach Hause, Kuchen, Flaschen, nützliche Vorräte wie Waschpulver, Konserven … Und Annie fragt mich nichts und passt auch gleich ihre Ausgaben an. Keine Rede mehr davon, mich vorzuschicken, um Julien anzupumpen. So bescheißen wir uns gegenseitig, sie rühmt die Großzügigkeit ihres Schwagers, ich die meines Freundes.
    Aber ab und zu lässt mich ihre Frostigkeit oder eine herausgeschossene und sogleich mit einem Lächeln eingefangene Bemerkung spüren, dass sich die Atmosphäre verschlechtert, keine Chance, dass es sich wieder einrenkt.
    In den ersten Wochen war Annie, wenn Julien kam, eine herzliche Gastgeberin, beflissen, mütterlich

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