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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Augenblick trüben …«
    Und wir stürzen uns wieder in die Straßen, treiben uns rum, kommen zu spät; da ist endlich der Boulevard, das Haus, der Hof. Annie macht Essen, Nounouche sucht in unseren Taschen nach Bonbons. Wir sehen uns alle drei mit ranzigem Lächeln an, wir lassen das Radio reden, weil wir uns nichts zu sagen haben. Um unsere Münder zu beschäftigen, rauchen und trinken wir bis zum »Gute Nacht, Kinder, und denken Sie dran, die Riegel vorzuschieben, Anne«.
    Heute Abend geht der Laden endlich in die Luft.
    Wir haben eine Flasche aus der Bar des Hotels mitgebracht, in dem wir am Nachmittag waren; vor allem haben wir diverse Aperitifs getrunken und sind erst zum Dessert bei Annie angekommen.
    Nounouche hält sich ausnahmsweise an die Anweisungen ihrer Mutter und achtet drauf, uns nicht anzugucken, vergisst, über das Essen zu schimpfen, leert ihren Teller und wischt ihn mit Brot blitzsauber; Annie schlingt mit gewohntem Appetit, macht den Mund nur auf, um zu schaufeln. Für uns ist nicht gedeckt. Ich habe keine Lust, noch länger vor dem Büffet zu stehen, ich beschließe, der Peinlichkeit zu entfliehen, zu der diese Inszenierung unweigerlich führen wird, und schlafen zu gehen. Ich schreite also ziemlich würdevoll durch den ganzen Raum. Auf einmal bleibt mein Zeh an einer Unebenheit im Linoleum oder einer herumliegenden Krawatte hängen, rutscht weg und zieht mich um, während die Umgebung ins Schwanken gerät und mir der Alkohol aus den Ohren quillt.
    Annie kichert gehässig: »Ihr seid mir ein schönes Paar! Aber so läuft der Hase nicht! Sie werden schon begreifen, Julien, dass meine Wohnung kein Bordell ist und dass …«
    Mit einem Schlag bin ich wieder brillant, eiskalt, kerzengerade: »Ich weiß es, Annie, und deswegen bleibe ich keine Minute länger. Ich räume das Zimmer, dann können Sie Ihre Strohwitwengewohnheiten wieder aufnehmen und empfangen, wen Sie wollen. He, komm schon, hilf mir, meine Kiste vom Schrank zu holen.«
    Da Julien sich nicht rührt, klettere ich auf das Fußende meines Betts, ziehe den Koffer runter und fange an, den Inhalt meines Schrankfachs reinzuwerfen. Ich gehe in die Küche, um meine Toilettensachen zu holen, aber Annies Geschrei hält mich auf. Es ist interessant, so frei von der Leber weg.
    »Sie sind eine kleine Zicke«, schäumt sie, »ein kleines Dreckstück …«
    »… eine kleine Schlampe und eine kleine Nutte«, ergänze ich. »Sind Sie fertig, damit ich mich verabschieden kann?«
    Der überquellende Koffer macht einen Buckel, ich kriege ihn nicht zu.
    »He, Julien, hilfst du mir jetzt, Scheiße nochmal!«
    Ich bin die einzige Figur des Gemäldes, die sich bewegt und redet, ich würde am liebsten Fußtritte verteilen, töten, flüchten … Sie bleiben einfach sitzen. Annie starrt stumpf vor sich hin und lässt die letzten Bläschen ihres Ausbruchs platzen; Julien bleibt reglos, gleichzeitig aufmerksam und ungerührt; Nounouche schmiegt sich an den Stuhl ihrer Mutter und weint mit kleinen Schluchzern, ausnahmsweise mal von einer Szene überfordert, eine richtige Szene, wie im Kino, mit Tränen und rasenden Herzen, tap-tap-tap, armes Herz von Nounouche. Und ich …
    Mir kommt das Ganze allmählich total albern vor. Schon überlege ich mir, dass es gut gewesen wäre, heute Abend nochmal zu trinken und zu reden, wie drei Pseudofreunde; Nounouche würde schlafen, der Koffer würde an seinem Platz auf dem Schrank stehen, Verheißung des Aufbruchs, bald, bald … Aber auf diesem Koffer sitze ich jetzt, und nichts auf der Welt bringt mich dazu, ihn hier nochmal aufzumachen. Ich muss weg, heute Abend oder nie, die Gelegenheit ist zu schön. Schön für den geduldigen, unentschlossenen Julien, schön für mich, bedient, bereit, irgendwohin zu sausen und dort irgendwas anzustellen. Weggehen, Luft zum Atmen haben, singen.
    Wenn ich aufstehe … schon stehe ich, die Stirn an Juliens Schulter. Ich habe den Mantel über mein Kostüm gezogen; es ist sicher kalt unter den Laternen von Paris, wo ich jetzt wieder herumirren werde. Ich sehe Julien nicht an, aber ich kenne seine abwesende Miene, die Blässe, die dunklen Augen, die feuchten Schläfen.
    »Wohin gehst du, Anne? Wo finde ich dich jetzt wieder? Du wirst dich erwischen lassen … O Mann, das alles, um am Ende so dazustehen …«
    Seine Arme umklammern mich, lassen mich an ihm festwachsen: »Nimmst du dir das wirklich zu Herzen? Bist du nicht heilfroh, dass ich abhaue? Wir werden frei sein, können uns sehen, wann

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