Astragalus
wir wollen! Kein Zeitplan mehr! Keine Krawatten!«
»Ich weiß schon«, sagt er. »Man ist immer allein. Das wär das Schlimmste, weißt du, dass du weggehst und ich dich nie wiedersehe. Ich gehe meinen Weg weiter. Allein. Und ich halt nicht mehr an.«
Julien, Julien, dieses Wasser auf meiner Wange, deine Tränen, kurz, stumm, die mir das Herz zerreißen …
Ich lache hart: »Ich wünsche mir, dass du irgendwann genauso viel heulst, wie ich geheult habe, dass du so auf mich wartest, wie ich auf dich gewartet habe … Komm, wir gehen.«
»Sag mir wenigstens, wohin du gehst …«
»Keine Angst, ich weiß schon, wohin. Ich finde dich auch wieder, wenn du willst … Nenn mir einen Treff, wo es dir passt, egal wann. Ich habe nichts anderes zu tun: kommen, wenn du rufst, da sein, pünktlich, für dich.«
Julien schlägt vor, Annie zu holen, damit wir uns versöhnen, bevor ich gehe … in der Hoffnung, dass ich nicht gehe.
»Morgen treffe ich mich mit jemandem …«
»Ein neues Versteck, bravo! Pierre, Annie, ’tschuldigung, bitte bitte, so werde ich meine ganze Flucht verbringen! Hör mal, Julien, ich laufe, das ist dein größter Sieg …«
Julien versteht mein »ich laufe« falsch, er denkt, dass ich dahin laufe, wo er will, er schließt die Augen und lächelt vor Freude, und ich spüre, dass ich vor diesem Lächeln kapitulieren werde … Da kommt Annie aus dem Schlafzimmer, um zu trinken oder zu pinkeln; ihr stechender und höhnischer Blick bestärkt meine Entschlossenheit. Nein, ich kann nicht bleiben, dann krepiere ich oder bringe sie um.
Der Tag bricht an, als wir die Wohnung verlassen, und die Riegel schieben wir nicht vor. Im Taxi, das zum Bahnhof fährt, dem Bahnhof, wo Julien mich auf dem Bahnsteig stehenlassen wird, nehme ich seine Hand. Sie ist kalt und reglos, eine tote Hand, und auch seine Lippen sind eisig.
11
»Nicht lachen, da ist sie …«
Ein gleichgültiger, eiliger Finger klopft an die Tür. Ich rufe »Herein«, mit der gleichgültigen, gar nicht eiligen Stimme einer Frau, die allein in einem Hotelbett aus einer ruhigen Nacht erwacht und sich wie gewohnt das Frühstück aufs Zimmer kommen lässt, bei dem sie wieder einschlafen wird, um den Vormittag zu genießen. Unklare Beschäftigung, klare Identität, exakter Tagesablauf. Der Empfangschef ist zufrieden mit mir, und die Zimmermädchen finden immer eine kleine Entschuldigung in Münzen für die Unfälle auf dem Laken. Unfälle gibt es nur mit Asche oder Schokolade.
Bei Nini und Annie haben Julien und ich Sioux-Gewohnheiten entwickelt … Um sich in mein Zimmer zu schmuggeln, schleicht Julien an der Rezeption vorbei, während ich den Nachtwächter mit meinem Schlüsselgeklapper ablenke. Ich hole Julien im Treppenhaus ein, schließe die Zimmertür auf, und wir schlüpfen hinein, als würden wir verfolgt.
Heute Morgen waren die Spiritustabletten für meinen Kocher ausgegangen, und auf Nescafé mit Wasser aus dem Hahn hatten wir keinen Bock. Ich habe angerufen und Frühstück bestellt; eins ist genug für zwei, Brot und Croissants, Butter und Konfitüre, ein großes Kännchen Kaffee.
Ich schließe die Tür hinter dem Mädchen und hole Julien aus der Toilettenecke. Er sitzt brav auf dem Bidet.
»Komm, Schatz, ich habe Riesenhunger …«
Das auf unseren vier Beinen liegende Tablett, die kurzen, sich kreuzenden Bewegungen, die milde Unordnung, der Aschenbecher, der das Tablett ablöst …
»Ich rauche eine und hau ab«, sagt Julien.
»Dein Zug fährt um elf Uhr vier, hast du gesagt. Du hast viel Zeit. Komm, wir schlafen noch ein bisschen.«
»Nein, ich bin verabredet. Nicht doch, kein Mädchen!«
Was kümmert mich das! Ich schiebe die Nase in Juliens Achsel, kämme mit der Fingerspitze seine Brust, ich sauge mich voll mit der Weichheit und dem Perlmuttglanz seiner Haut, ich präge mir jede Einzelheit ein, jeden rosa oder braunen Fleck, um mich daran zu erinnern und mich stark zu machen, bis zum nächsten Glück – einem Abend, einer Nacht. Das ist mein Glück, zwei-, dreimal im Monat. Der Rest der Zeit ist Arbeit, Pflicht, diffuse Angst.
Es regnet fast jeden Tag. Mein Haar kräuselt sich, mein Rock klebt feucht an den Beinen, mein Knöchel saugt sich mit scharfer, schwerer Kälte voll. Trotzdem laufe ich. Ich muss. Damit ich Julien sagen kann: »Keine Sorge, ich krieg das schon hin«, damit ich verfügbar und geheimnisvoll bin, damit er die langen Monate vergisst, in denen ich von ihm abhängig war, und den Gedanken, dass ich ihn
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