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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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diskret; wenn Julien nicht über Nacht blieb, verschwand sie mit den Karten und einer Literflasche zu den Villons: »Komm schon, Nounouche … Amüsiert euch gut, Kinder, wir sind in einem Stündchen zurück.«
    Wir hätten sie an Rücksicht überbieten, das Bett nicht berühren, uns vorsichtig liebkosen sollen; stattdessen breiteten wir uns in der ganzen Bude aus, rauchten neben dem Bett des Kindes mit empfindlichen Bronchien, leerten die von Julien mitgebrachten Flachmänner, ohne einen Tropfen für den Abschiedstrunk übrig zu lassen, für nachher, wenn die Störenfriede in ihre Wohnung zurückkehrten. Und für uns dehnte sich die Stunde aus, lang, weit, zurück bis zum letzten Abend, nach vorn bis zum nächsten – wenn es uns denn gegeben wäre, noch einen zu erleben. Die Nähte wurden geschweißt, die Nacht und die Angst verschwanden, Juliens Finger berührten mich, Verbrennung und Balsam … Ich hatte das Gefühl, im Knast mit ihm zu schlafen, bedroht vom Türspion, ausgebreitet auf winzigstem Raum, in kürzester Zeit; Zeitpfütze, Zeitinsel. Dann beseitigten wir alle Spuren unseres Ausbruchs, ordneten das Bett, unsere Gesichter, unser Verhalten. Immerhin, Annies Räume, ihre Laken, die Dinge, die sie mit Dédé benutzt hatte …
    Am Anfang bewunderte und bemitleidete ich: »Ich bin so glücklich mit dir, und die arme Annie …«
    Julien lachte vieldeutig: »Zerbrich dir wegen ihr nicht den Kopf …«
    Nach dem Fünftausender habe ich aufgehört, mir den Kopf zu zerbrechen.
    Am Abend meines zwanzigsten Geburtstags, beim Champagner, nach dem Anstoßen, trat mein Aufenthalt bei Annie in die Phase des offenen Niedergangs. Ich hatte meinen Geburtstag lange nicht mehr erwähnt, und Annie, die den Kalender nur rückwärts liest – noch soundso viel Tage für Dédé –, hatte ihn glücklicherweise vergessen. Julien hingegen hatte ihn offenbar in seinen Kalender eingetragen, diese kreuz und quer mit Wörtern und Zeichen vollgekritzelte Gedächtnisstütze, in der er ständig blättert. Abends um acht kam er, gefolgt von dem Freund, mit dem er mich im Mai abgeholt hatte, und beide erstickten mich mit Blumen, Kartons, Küssen und Wünschen.
    »Oh, Gladiolen … Sie sind ja so groß wie ich! Danke …«
    Wir stellten sie in einen Krug auf den Boden hinter meinen Sessel. Ich posierte vor diesem Hintergrund wie für ein Luxusfoto. Die einzige Kerze im Haus wurde halbiert, ein Stummel für jedes Jahrzehnt. Aber wir wussten nicht, dass diese Mahlzeit für die gut gespielte Freundschaft, mit der wir einander bisher ertragen hatten, die letzte sein würde. Nounouche legte wie bei einem Wohltätigkeitsessen Löffelbiskuits neben jeden Teller. Der Freund war gegangen, Annie gähnte in ihr Champagnerglas, und meine zwanzig Jahre wurden schon angenagt, glitten Sekunde für Sekunde dem einundzwanzigsten, dem ersehnten, dem mündigen, dem ernsthaften Jahr entgegen.
    Die beiden gingen schlafen. »Und denkt dran, die Riegel vorzuschieben«, sagte Annie automatisch, als sie mich ein letztes Mal umarmte. Julien, so aus meinem Bett herauskomplimentiert, wollte weder bei mir bleiben, noch mich woandershin mitnehmen oder unter falschem Namen ein Zimmer mieten. Er erfüllte keinen meiner Wünsche, und wir brachten uns mit den Neigen aus den Flaschen und Wortgefechten in Rage, wollten uns festhalten und stießen an die blinde Mauer der Unmöglichkeiten, bis ich am Ende eine Ohrfeige bekam und zurückgab.
    »Julien!«, weinte ich, »ich liebe dich …«
    »Ich liebe niemanden außer meiner Mutter …«
    So fanden wir uns endlich damit ab, zuzugeben und zu glauben, dass wir uns liebten.
    Jetzt bringen mich diese in meiner Erinnerung versteckten Worte zum Lachen und rücken immer weiter weg: Ich liebe, der Stern ist aufgegangen. Rolande hat das Kreuzass inzwischen bekommen, alles ist unberührt, strahlend, das hindernisfreie Unbekannte lenkt meine Schritte. Noch ein bisschen Geduld … Aber wie soll ich Annie verlassen? Welche Gelegenheit, welchen Streit hochkochen?
    Der Krankensessel im Wohnzimmer ist zum Liebessessel geworden, wir wollen das Kinderbett nicht mehr. Oder ich zeige Julien die Hotels meiner Jugend. Diese Momente, wenn unsere Körper und unsere Herzen spielen und ineinander ruhen, beschwören andere, früher mit anderen Männern verbrachte »Momente« herauf. Ohne Scham, ohne Lüge erzähle ich davon, wie fremde oder ausgedachte Geschichten. Die Vergangenheit flackert auf und erlischt, ist ausgebrannt.
    »Nichts soll diesen

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