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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Zeit und Zärtlichkeit nötig, ehe aus meiner Qual ein neuer Quell hervorsprudelt.

10
    »Annie, äh …« Ich bringe es mit Mühe heraus: »Wenn Sie Zigaretten kaufen, würden Sie mir ein Päckchen Lakson mitbringen?«
    Mit dieser Hose, die die Magerkeit ihrer Hüften unterstreicht, dem dünnen Brauenstrich und ihrer Schäfchenfrisur wirkt Annie wie zusammengesetzt, oben eine alte Puppe und unten ein junges Mädchen. Auf dem Markt sorgt sie für Aufsehen. Deshalb vermeide ich es, sie dorthin zu begleiten.
    Wenn sie nachher von ihren beiden Einkaufstaschen im Gleichgewicht gehalten zurückkommt, werde ich den letzten Stummel meiner letzten Gitanes anzünden, um das Auspacken zu beschleunigen, ohne den Anschein von Ungeduld zu erwecken. Seit gestern Abend bin ich nämlich blank. Meine Reserven sind draufgegangen, als ich Apéros für Julien gekauft habe, der versprochen hatte, sich sehen zu lassen, und nicht gekommen ist. Was ist mit ihm los?
    Als Annie reinkommt, unterbricht sie meine Grübelei: »Oioioi, meine Kleine, so gequält heute Morgen! Ich habe genug zu essen für die ganze Woche gekauft, so lange halten wir jedenfalls durch. Aber dann …« Sie redet davon, bei Villon zu leihen, »die es nicht kratzt, zu fragen, wenn sie was braucht«, ihre Schwägerin anzupumpen und so weiter, bis sie mich schließlich bittet, Julien zu überzeugen, natürlich wenn er mit mir allein ist, ihr einen kleinen Vorschuss auf die Pension für den nächsten Monat zu geben.
    Das ist wirklich ein dickes Ding …
    Ich erkläre, dass Julien nicht mein Kunde ist, dass ich nicht auf seine Kröten scharf bin und dass er uns nichts schuldet. Wir haben den 23. Nicht mein Problem, wenn Annie zum Friseur geht, Nounouche neu einkleidet und Dédé Päckchen schickt. Dann heult sie sich ausgerechnet bei mir aus, wo ich nichts auf der Welt habe als einen Gitanes-Stummel, während ich darauf warte, dass sie den Nachschub herausrückt! Ich sitz da, die Nadel in der Hand, das Knie auf die Krawatte gepresst, meine Augen in Höhe ihres Gürtels, und ich sehe das Viereck der Zigarettenschachtel, die ihre Hosentasche ausbeult. Ich denke an die Wärme des Rauchs, der geschmeidig, mit kleinen scharfen Rauheiten durch die Kehle und die Brust fließt, das Blut in Wallung bringt, ich denke an alle Aschenbecher, die ich in meinem Leben geleert habe, gequält vom Entzug sitze ich da, starre auf Annies Hose und kriege nichts von dem mit, was sie erzählt.
    »Es reicht nicht, was zu haben, man muss es auch unter die Leute bringen«: Pierre. »Warten Sie nur ab, bis ich mich richtig ins Zeug lege …«: Pedro. »Keine Sorge, Anne, ich schaff schon was ran«: Annie. Neben diesen ungreifbaren Reichtümern aus leeren Worten und Wind hat Julien nichts außer Zaster. Zaster ist notwendig und natürlich, ist Luft und Blut, warum also darüber reden?
    »Aber Annie, Sie haben doch noch für eine Woche Haushaltsgeld, oder?«
    »Sie haben ja keine Ahnung, wie teuer das Leben ist! Kommen Sie ruhig etwas öfter mit auf den Markt, dann werden Sie schon sehen.«
    »Unmöglich, ich würde ganz sicher mit vier Geldkatzen zurückkommen, statt mit einer. Aber … Sie haben recht. Ich werde einen Schaufensterbummel machen, um eine Ahnung davon zu kriegen.«
    Mein Kopf ist voll Watte, die Watte ballt sich zu einem immer härteren Knäuel zusammen. Ich muss durch Paris laufen, muss den Geruch der Straßen am Morgen, der Marktgassen im Gedränge der Einkaufstaschen wiederfinden. Vielleicht verlasse ich sogar das Viertel der schlecht frisierten Frauen und der Männer in ihren formlosen Blaumännern und dringe zu den sauberen Gassen vor, ins Zentrum der Stadt …
    »Nehmen Sie Nounouche mit?«
    (Scheiße! …)
    »Wenn sie will … Wir gehen zum Pferdekarussell. Ich habe Lust, den Luco wiederzusehen …«
    »Na, Nouchette? Willst du mit Anne in den Luxembourg?«
    »Nein. Ich habe keine Lust, rauszugehen. Ich bleibe bei meiner Mutter.«
    Ihr gutes, kleines, eifersüchtiges Tochterherz setzt mich vor die Tür. Umso besser …
    Zum ersten Mal seit Jahren verlasse ich den Boulevard de Sébastopol und schlendere durch Paris. Ich bleibe an der Kreuzung stehen. Der Polizist, die Zebrastreifen, die Metro und dann das endlose Puzzle der Häuser und Straßen. Wenn ich diese Grenze übertrete, wenn ich in den Untergrund eintauche oder zum nächsten Boulevard gehe, wie kann ich danach zu Annie zurückkehren, zu ihrem schlechten Kaffee, ihrem Krawattenhocker, Annie, der Knastbraut, Annie vom

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