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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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– nur so wenig: Vor den Pfoten der Zuhälter und der Hinterhältigkeit mancher Kunden habe ich mich schon mit sechzehn gehütet, und inzwischen hat sich nicht viel geändert … Angst habe ich nur vor den Bullen, da ich nicht das geringste Papierchen habe, das ich ihnen bei einer Razzia präsentieren könnte. Aber ich wechsle ständig die Straße, das Hotel, das Aussehen, ich schnüffle an den Passanten, bevor ich ihnen antworte. Eine unerklärliche, aber sichere Intuition hält mich ab oder ermuntert mich; Ampeln blinken in meinem Kopf, rot Achtung, grün in Ordnung, geh, warte, warte nicht und hau ab, lächle, komm. Ich gleite mit raschen, entschlossenen Schritten die Straßen entlang, ich hinke kaum und laufe, so schnell ich kann. Mein scheinbares Desinteresse, das »Sie sind nicht so eine« der Männer dient mir als Schutz und als Köder.
    »Sehen wir uns wieder?«
    »Warum nicht, wenn der Zufall es will.«
    »Sagen Sie schon, wo finde ich Sie? Sie haben doch sicher ein Viertel, eine Lieblingsbar?«
    »Ach ich … ich laufe.«
    Um ihnen eine Freude zu machen, wenn sie besonders großzügig oder besonders armselig sind, deute ich eine Route an, schreibe eine Verabredung in mein Notizbuch – Gekritzel als Aussicht für einen Abend, nichts Schriftliches herumliegen lassen, und das da, Dickkopf, wer ist das? Wär schon ein Wunder, wenn der Kerl mich wiederfände, Paris ist groß. Und wenn, bin ich Ihnen vielleicht was schuldig? Sie haben eine Stunde auf mich gewartet? Ich zwei. Woanders und nicht auf Sie, aber was soll’s? Einer von euch schuldet mir eine Stunde.
    Allmählich organisiere ich mich, lege ein Tageslimit fest, mache Einkaufslisten. Die Bude macht sich schön, ich werde nicht hässlicher, und Julien ruft öfter an. Nein, ich werde nicht wieder geschnappt. Der ständige Gedanke an Julien verbirgt und schützt mich. Ich pfeif drauf, dass ich in den Knast zurückmuss, aber heute wäre es einfach zu absurd … Heute ist das Vorspiel für eine andere Zeit, eine Zeit, die wiederum das Vorspiel für mein Erwischtwerden sein wird. Aber vorher will ich noch ein bisschen laufen …
    Es wird bald Mai. Ich kaufe Kleider, die zur ersten Bräune passen, eine Ratatouille von Farben; ich trage Espadrilles, wie früher, berausche mich am Laufen unter den Knospen des Frühlings. Ein Jahr bin ich schon draußen! …
    Unter den Worten und Liebkosungen der Männer vergesse ich manchmal, dass ich gar nicht so schön, so nett bin. Wenn ihr mich vorher gesehen hättet, ihr Blödmänner, als ich noch ganz war und ohne Liebe, wenn ihr mich morgen sehen könntet, wenn ich vernarbt, wenn ich von allem genesen sein werde, außer von der Liebe …
    Wie sagt Annie: »Sie sind noch so jung … Glauben Sie, als wir in Ihrem Alter waren, klappte alles von selbst mit Dédé und mir?«
    Um zu erklären, warum ich in keine Kontrolle kommen will und warum ich mir keine Karte hole, erzähle ich den Mädchen, dass ich auf Bewährung draußen bin und mich nicht wegrühren darf, dass der Strich mein Beruhigungsmittel ist, weil ich kein Sitzfleisch habe und so weiter. Die Einzige in ganz Paris, die die Wahrheit kennt, ist Annie … Also habe ich sehr bald nach meiner »Flucht« Frieden geschlossen; schließlich war Annie mehr als sechs Monate meine Mutter, wir haben gemeinsam rührende, arbeitsame Stunden verbracht, wir haben – wenn auch aus verschiedenen Gründen – beide auf das Kommen desselben Mannes gewartet …
    An dem Morgen, als Juliens Hände so kalt waren und der Koffer so schwer, waren wir am Bahnhofsbüffet hängengeblieben, hatten die Züge abfahren lassen. Ich hatte Schokolade bestellt, ich machte mir keine Gedanken, ich war ausgehungert und aufgekratzt.
    »Julien, Liebster! … Sei nicht traurig, trink mit mir Schokolade … Woran denkst du? Willst du mir nicht vertrauen?«
    Ich sprang vom Trittbrett, als sich der letzte Zug in Bewegung setzte. Ich nahm, tief im Schädel eingegraben, eine Telefonnummer mit, und diese Zahl entrollte ein unzerstörbares Seil, während die Waggons an mir vorbeirollten, ich hielt das Seil ganz fest, um mich vor dem Zweifel und dem Ertrinken zu bewahren, ich hielt, am anderen Ende, Julien …
    In manchen Vierteln von Paris interessiert sich an der Hotelrezeption niemand für deine Fleppen; du musst nur ganz selbstverständlich eine leere Brieftasche zücken, und der Wirt schiebt sie höflich weg. Man vertraut deinem netten Gesicht, und selbst fadenscheinige Klamotten wundern keinen, wenn nur

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