Astragalus
geliebt habe, um ihm dafür zu danken, damit unser Zusammensein nicht von dummen Hintergedanken beschwert wird, damit ich ihn auch ein bisschen unruhig mache und ihm ein bisschen fehle … Bei Pierre oder Annie konnte sich seine Zuneigung ausruhen, er landete, wann er wollte, ich war immer da. Jetzt baue ich ein gefährlicheres, aber bewohnbareres Nest, ich halte es frei und offen, um darin mit ihm zu leben, reserviere für mich persönlich nur eine ganz kleine Kammer, den Raum der Schande, des Gerümpels und der Schufterei.
Später werde ich natürlich »Geschäfte« machen, große, goldene; aber bis dahin muss ich fürs Überleben sorgen. Ich habe niemals Hunger, aber ich habe tausend Hunger im Kopf, und Hunger auf Julien, der sich in tausend Wünsche teilt, kindliche, überraschende, komplizierte …
Gegen vier mache ich gründlich Toilette, die bis zur Nacht reichen muss: halterlose Strümpfe, wasserfeste Wimperntusche, Klamotten, in denen man elegant aussieht und sich wohlfühlt; ich falte und wische, räume mein Zimmer auf wie eine Pensionatsschülerin, weil ich ein bisschen Angst vor den Zimmermädchen habe und weil ich womöglich nie mehr zurückkommen werde.
(»Los, aufstehen, für Flittchen wie dich gibt es keinen Stuhl, seht euch diesen Dickkopf an!«)
Wenn ich nach stundenlangem Verhör endlich bereit bin, meine Adresse zu nennen, finden die Bullen hier nichts außer einem Slip, der auf der Heizung trocknet, und zur Ehrenrettung für die ganzen hübschen Dinge, damit sie ihnen nicht wie gestohlen vorkommen, ein ganzes Bündel von Quittungen: für das Radio, die Uhr, das Reisebügeleisen.
Man muss halt damit rechnen, in jeder Sekunde, bei jedem Schritt …
Ich schlafe selten woanders. Meistens packt mich die Langeweile, bevor ich die Schwelle zum Schlaf überschreiten, Schatten werden und Gefährten für die Nacht suchen könnte, die mehr einbringen als die für den »Moment«. Von Nächten für dreißig- oder fünfzigtausend habe ich sowieso nur im Knast gehört, wo der Tratsch jeden Luxus möglich macht. Eigentlich müssten Nächte mit Ausbrecherinnen noch mehr wert sein. Aber die Nacht deckt den Tag zu, alle Stunden haben dieselbe Farbe, die bleiche Farbe der Gefahr. Ich unterdrücke meine Müdigkeit und meinen Widerwillen bis zu einem bestimmten Tagessatz, dann reinige ich mich von beidem in wunderbarem, tiefem Schlaf.
In den Bars, wo sich die Prostituierten drängen, habe ich ein paar Minderjährige aus Fresnes wiedergetroffen, die hier heimlich auf den Strich gehen, bis sie das geforderte Alter für die Karte haben, oder das Alter erreicht haben und Profis geworden sind. Trotz meines neuen Schritts, meiner um gut zehn Kilo dünneren Taille und meiner Alltagsklamotten haben sie mich erkannt: »Hallo Anne! Bist du schon raus?«
Ich antworte, dass ich nicht Anne heiße und in Paris neue Freier suche, gleichzeitig suche ich in dieser Galerie Gesichter, die auch in meiner Knastgalerie hängen. Graue oder braune Kleider, dick und plump, die Wintergesichter. Karierte oder gestreifte Blusen, bis zur Durchsichtigkeit abgetragen, an den Rundungen und Falten abgewetzt, die Sommergesichter. Aber sommers wie winters behielten meine kleinen Schwestern dieselbe Maske, blass, marmoriert oder rot angelaufen, Ringe unter den Augen und diese fade, anonyme, einheitliche Miene. Manchmal ließen mich glänzendere Augen, besonders geschwungene Lippen, superstrahlende Zähne aufmerken. Aber wie sollte ich mich an einen Namen erinnern, woher wissen, aus welcher Raupe diese Schmetterlinge geschlüpft sind, nicht wiederzuerkennen in einer anderen Uniform, dicke Schminke, hautenge Klamotten, gefärbte Haare.
Sie bleiben in der Bar, sie warten, dass die Kundschaft zu ihnen kommt, sie haben nichts anderes zu tun, sie warten, den Hintern an der Jukebox oder auf dem Barhocker vor einem Glas oder wie die Verkäufer mit im Rücken verschränkten Händen an der Ladentür, da oben, jenseits des Reichs der Nutten, Hinterhöfe und Gassen, in der strahlenden Weite des Boulevards. Ihr Umsatz hängt von der Saison ab und davon, wie sie angezogen oder frisiert sind. »Wenn ich dieses Kleid anziehe, ich sag dir, dann kann ich mich vor Freiern nicht retten.« »Ich arbeite nur in Hosen gut.«
Ich hingegen laufe. Ich flaniere nicht auf dem Strich, ich habe keine Zeit, ich mag die Straße nicht, und ich bin schließlich nicht nur Nutte. Ich mache es, weil es schnell geht, weil es weder feste Arbeitszeiten noch eine Ausbildung verlangt
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