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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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vor, mir Schlüssel für den Koffer und die Türschlösser machen zu lassen, damit ich immer an meine Piepen rankomme, auch in ihrer Abwesenheit; sie ist voll und ganz mein Kumpel, freundschaftlich, einfallsreich, fürsorglich.
    Ich habe nichts auf der Welt als ihren Blick.

13
    Ich bezahle meine Hotelrechnung, bringe meine Koffer zu Jean.
    »Sehen Sie, ich bin einverstanden … Da sind schon mal meine Klamotten, der Rest folgt.«
    Ich habe meinen Zaster, mein Zeug und mich selbst auf verschiedene Verstecke aufgeteilt. Unnötig, sich jetzt zu fragen, was aus dem Zeug bei Annie, dem Zaster bei Jean, oder mir bei Jean mit allem anderen geworden wäre – getan ist getan, ich nehme mir ein paar Tage, um an nichts zu denken, ich nehme den Nachtzug, ich … Aber ständig drehe ich mich, drehe mich um, kehre um und renne gegen die Mauer, hinter der mein Herz eingeschlossen ist. Sieh nur, Julien, sieh nur das graue Meer, das von der Morgenröte durchbohrt wird, und spür, wie kalt mir ist, obwohl ich gleich baden gehe.
    Gestern Abend war der Zug überfüllt von aufgeregten, ausgehungerten, lauten Menschen; zappelnde Trauben von Kindern mischten sich mit lachenden und schimpfenden Trauben von Erwachsenen, überforderten Müttern, würdevollen Kreuzworträtslern. Ich hatte zwischen einem Krimileser und einem Jungen Platz gefunden, der auch las, dessen Blick aber zu mir rutschte. Heute Morgen steht der Junge neben mir im Gang, und unsere schüchtern verschlungenen Hände bilden eine zerbrechliche Brücke zwischen seinem Unbekannten und meiner Einsamkeit.
    »Wenn Sie wollen«, sagt er, »gehen wir gleich nach der Ankunft baden. Das Wasser ist schön am Morgen. Ich flitze bei meinen Eltern vorbei, hole meine Badesachen, und wir treffen uns irgendwo. Was halten Sie davon?«
    Der Junge ist heil, gebräunt, anregend wie ein Ferienaperitif. Ich fühle mich alt und ramponiert, habe Lust auf seine Jugend.
    »Nein. Ich gehe in irgendein Hotel, Sie begleiten mich und kommen mich heute Nachmittag dort abholen. Kennen Sie ein gutes Hotel, nicht zu teuer und nicht zu versifft?«
    Auf Nobelabsteigen mit x Sternen bin ich nicht scharf. Ich würde gern auf einen Fahrstuhl verzichten, Treppen hochrennen, die nicht perfekt gebaut wurden, mit roten, frischen Kacheln, gekalkten Fugen und Treppenabsätzen mit scharfen Ecken, die Laken rau und lavendelduftend, das Fenster nicht zur Straße raus. Abends würde der Geruch von Knoblauch und Zwiebeln zu mir hochsteigen, dazu das Quirlen des Innenhofs und der dumpfe Atem des Meeres. Das wäre die Provence der Postkarten, mit den Farben, die real und greifbar werden, je weiter wir gehen, der Junge und ich, mit dem schleppenden, hüftbetonten Gang, der den Leuten im Sommer an der Küste eigen ist.
    Mein Zimmer ist so, wie ich es wollte. Ich verbringe ein, zwei Stunden darin. Die zugezogenen Vorhänge lassen einen goldenen Streifen herein, in dem wie winzige Sandkörner Insekten und Staub tanzen.
    Ich habe mit dem Jungen gespielt; unsere Körper schnurren, leer und schlaff. Nachher haben wir vielleicht wieder Hunger und Durst, tauchen in das holzgetäfelte Halbdunkel der Bar ein oder gehen an den Strand und legen uns wieder hin. Wir werden bis morgen sagen, und morgen werde ich in einer anderen Menge von Badenden verschwunden sein, allein oder mit einem anderen, aber immer isoliert in meinem Kreis und meinem Viereck, mit der unschuldigen und gnädigen Schönheit des Wassers und der Pinien. Schritt für Schritt gehe ich meinem Sommer entgegen. Wenn ich dort ankomme, bin ich bereit, ich binde mich nicht, lege mich nicht fest, um mich der Form anpassen zu können, die meine Liebe dann haben wird.
    Wieder laufe ich, meine Füße sind gelb vom Staub, und die Leute, die ich treffe, hüllen mich ein, tragen mich, schubsen mich wie Wellen, ohne mich zu stören. Ich laufe, passiv, weder fröhlich noch traurig. Ich speichere die Glut der Sonne, strahle nicht selbst; bald kehre ich in die Kälte zurück, dann werde ich meinen Vorrat brauchen.
    Wegen meiner Haxe kann ich nicht mehr barfuß laufen: Die Fußsohle ist hart und verhornt, aber sie ist so empfindlich geworden wie eine Schleimhaut, die feinsten Kiesel wecken den Schmerz. Mein Bein ist nicht mehr die sichere Halbbasis des Gleichgewichts, jeder Schritt ist ein Täuschungsmanöver, ein verhinderter Sturz. Kaum höre ich auf, an meine Schritte zu denken, überrasche ich mich dabei, zu hinken und den Fuß schief aufzusetzen, in dem Winkel, den die Gipsform

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