Asylon
oberen Ecke die grobkörnige Schwarz-Weiß-Kopie eines Fotos.
Ungläubig fuhr Saïna mit dem Finger über das abgebildete Gesicht.
Es war ihr eigenes.
Gierig schlug Torn die
Zähne in das gebratene Fleisch, das sie ihm direkt vom Feuer herübergereicht
hatten. Er hatte keine Ahnung, um was für ein Tier es sich gehandelt haben
mochte, und er hatte keine Lust zu fragen. Nach den Entbehrungen der letzten
Tage schmeckte es jedenfalls köstlich. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Sie
saßen in der großen Hütte in der Mitte der Siedlung, die tatsächlich eine Art
Versammlungsort zu sein schien. In der Mitte prasselte ein Feuer. Viele solcher
Feuer hatten dem Inneren der Hütte einen würzigen Geruch verliehen. Durch das
Abzugsloch direkt darüber konnte man einen Fetzen Nachthimmel sehen.
Torn schien es, als ob sich fast
das gesamte Dorf, Männer, Frauen, Kinder und Alte, in der Hütte versammelt
hatte. Er schätzte sie auf etwa vier Dutzend Leute. Es gab kaum einen Fleck
Boden, auf dem nicht jemand stand oder saß. Überall wisperte es, und man
beobachtete genau, was er tat. Er kam sich vor wie ein seltenes Tier.
Bedächtig kaute er auf dem Fleisch herum und tat so, als würde er die Blicke
der anderen nicht bemerken.
Mittlerweile wusste er, dass die
gesamte Bevölkerung des Dorfes ehemalige Bewohner von Asylon waren, wie sie die
Stadt nannten, die er bis vor Kurzem für die letzte der Erde gehalten hatte.
Alle waren wie er mithilfe eines Nazar geflüchtet. Manche allein, manche in
kleinen Gruppen. Ihm gegenüber saß auf einem simpel zusammengezimmerten Hocker
der Mann namens Beck, der Kopf der Gruppe, die ihn vor etwa einer Stunde
aufgegriffen hatte. Er schien im Dorf der Anführer zu sein. Auch er beobachtete
ihn die ganze Zeit über aufmerksam. Torn entschied, dass es an der Zeit war,
ein paar mehr Antworten zu bekommen.
»Was ist Asylon?«
Das Wispern erstarb. Beck warf
einem grobschlächtigen Mann, der neben ihm stand und wohl eine Art Vertrauter
war, einen kurzen Blick zu. Dann schaute der Grobschlächtige aus wässrig grauen
Augen auf Torn herab. Ein blonder Kranz kinnlanger Haare umrahmte seine Glatze.
In seinem Blick lag spöttisches Mitleid.
»Wir wissen es nicht genau, aber
es ist mit Sicherheit nicht die letzte Stadt der Erde, wie wir immer geglaubt
haben«, sagte Beck schließlich.
»Woher wisst ihr das?«, fragte
Torn.
»Wir haben andere Städte gesehen.
Große Städte. Eine ist gar nicht weit von hier.«
Der Gedanke elektrisierte Torn,
aber eine andere Frage lag ihm noch dringender auf dem Herzen. »Wenn es andere
Städte gibt, warum sind wir alle in Asylon? Gab es überhaupt einen Surge?«
Beck wies zum Eingang der Hütte.
»Sieh dich draußen um. Sieht es aus wie die Hitzehölle, von der man uns immer
erzählt hat?«
Torn zuckte mit den Schultern.
»Na ja. Ein blühender Garten ist es nicht gerade.«
»Es gibt einige unter uns, die
glauben, sich an diese Gegend zu erinnern. Sie meinen, es hätte hier nie anders
ausgesehen. Die meisten von uns halten den Surge für ein Märchen.«
»Aber warum haben wir uns dann in
Asylon eingeschlossen?«
Beck beugte sich nach vorn und
fixierte ihn mit einem Blick, der Torn durch Mark und Bein ging. »Wer sagt,
dass wir es waren, die uns eingeschlossen haben?«
Torn fiel wieder ein, was Scooter
ihm zu diesem Thema erzählt hatte. »Dann stimmt es, dass wir Aufständische
sind, die man dorthin verbannt hat. Man hat unsere Erinnerungen gelöscht.«
Bei seinen Worten ging ein
aufgeregtes Raunen durch die Menge. Beck straffte seine Haltung wieder. »Aufständische?
Keine Ahnung. Aber ich bin mir sicher, dass Asylon eine Art Gefängnis ist.«
Ein Gefängnis!
Torn versuchte eine Weile, diese
Information zu verdauen. Wenn er kein Rebell war, was mochte er, was mochten
sie alle getan haben, dass man sie weggesperrt hatte? Eine grandiose Lüge, eine
riesige Inszenierung. Aber wofür? Der Gedanke machte ihn schwindlig.
Becks Stimme riss ihn aus der
Verwirrung. »Warum bist du hierhergekommen?«
Torn schüttelte den Kopf. »Ich
weiß nicht. Aus dem gleichen Grund wie ihr alle, denke ich. Ich wollte wissen,
was hinter der Grenze ist.«
Beck nickte verständnisvoll.
»Und diese andere Stadt hier in
der Nähe?«, fragte Torn. »Warum lebt ihr nicht dort?«
»Oh …« Beck winkte ab. »Einige
von uns haben es probiert. Es war verabredet, dass sie Kontakt mit den Leuten
dort aufnehmen und dann zurückkommen und uns Bericht erstatten. Wir haben sie
nie
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