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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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Oder war es
der Alkohol, der bereits seinen Blick trübte? Die Aufnahme war erst wenige
Wochen alt. Yvette hochschwanger auf der Couch in ihrer gemeinsamen Wohnung,
dort, wo er jetzt sein Lager aufgeschlagen hatte, weil er es nicht ertragen
konnte, allein in ihrem gemeinsamen Bett zu schlafen.
    Sie lächelte. Viele andere Frauen
blühten in der Schwangerschaft auf. Yvette, die ohnehin zierlich war, sah
hingegen geradezu ausgezehrt aus. Die Augen fiebrig glänzend, wirkte sie eher
wie die Passionsikone einer christlichen Märtyrerin. Überirdisch und entrückt.
    Das Foto war zu einer
Prophezeiung geworden. Torn ließ die Flammen darüber züngeln und kämpfte gegen
die Feuchtigkeit an, die seinen Blick noch mehr vernebelte. Eine Weile lang
hielt er das brennende Foto in der Hand. Die Emulsion schlug Blasen um Yvettes
hageres Gesicht und verlieh ihm für Sekundenbruchteile eine düstere Art von
Leben. Er hielt das Foto fest, bis ihm die Flammen die Fingerspitzen versengten.
Dann – das Feuer verlöschte bereits wieder – ließ er es fallen. Als
verglühendes Aschestreifchen wurde es schließlich von der hungrigen Düsternis
des Schachts verschluckt.
    Wiederum griff er nach dem
Whiskey, streckte den Arm, in dessen Hand er die Flasche hielt, wie zu einem
stummen Salut in den Nachthimmel, setzte sie dann an den Mund und leerte das
letzte Drittel in einem Zug. Danach glitt die Flasche aus seinen Fingern,
folgte den Fotos in den Schacht. Sich behäbig um die eigene Achse drehend verschwand
sie in der Dunkelheit. Schließlich war ein berstendes Geräusch zu hören. Einige
Sekunden später drangen die Fetzen eines unverständlichen Fluchs aus dem
Schacht nach oben.
    Torn ging in die Hocke und griff
dabei hinter sich, wo er die Reste seiner Hausbar versammelt hatte. Er bekam
eine halbleere Flasche Gin zu fassen und stellte sie etwas schwungvoller als
geplant neben sich. Sie fiel um und kullerte auf den Schacht zu. Es gelang ihm
gerade noch zu verhindern, dass auch sie von der Tiefe verschluckt wurde, doch
für einen Moment hing er selbst über dem Schacht, aus dem ihm eine warme
Dunstwolke entgegenwaberte. Verrottender Abfall und menschliche Ausdünstungen.
Der Atem der Stadt. Torn würgte den Brechreiz hinunter, der ihn überfallen
wollte, und stolperte in gebückter Haltung ein paar Schritte vom Rand zurück.
    Noch nicht.
    Mit angestrengter Vorsicht
öffnete er den Gin und stellte die Flasche erneut neben sich. Dann senkte er
die Hand in seine Beintasche und suchte nach dem nächsten …
    »Torn Gaser?«
    Für einen Moment wollte Torn die
Stimme für eine Ausgeburt seines Rausches halten. Doch irgendein halb intakter
Instinkt verriet ihm die Präsenz einer anderen Person in seinem Rücken. Er fuhr
herum …
    … und prallte zurück.
    Yvette. Oder zumindest das, was
die Hölle von ihr wieder ausgespuckt haben mochte. Das zierliche Gesicht
blutverkrustet und von einem Kranz schwärzlich versengter Haare umgeben.
    Er trat einen Schritt nach
hinten.
    »Bist du nicht Torn?«
    Ihre Augen waren schwarzbraune
Kohlen, dunkler als die Nacht um sie herum.
    Er machte noch einen Schritt
zurück.
    Und trat ins Bodenlose.
    Er wehrte sich nicht mehr
dagegen.
    Es war an der Zeit.

Die Stadt

7
    »Wolltest du dich
umbringen?«
    Torn öffnete mühsam die Augen.
Sein rechtes Bein schmerzte, als hätte jemand versucht, es ihm auszureißen. Er
konnte sich an einen brutalen Ruck erinnern, just in dem Moment, als er in den
Schacht gestolpert war. Danach mussten ihm die Sinne geschwunden sein. Er sah
sich um.
    Immer noch das
Dach.
    In irgendeinem Buch hatte er
gelesen, die Hölle bestünde darin, dass das Leben einfach weiterging, auf immer
und ewig, egal, wie oft man versuchte, es abzuschütteln. In ihm regte sich das
kranke Bedürfnis, laut loszulachen.
    Dann fiel sein Blick auf sie. Sie
saß ihm gegenüber auf dem rauen Bitumen der Dachpappe, die Beine angezogen und
die Arme um die Knie geschlungen. Die klare Sternennacht und der schwache
Schimmer aus dem Aufstieg hinter ihr tauchten sie in ein unwirkliches
Halblicht. Ein schmutziger blauer Monteursoverall verhüllte ihren Körper vom
Hals bis zu den Knöcheln, die Füße steckten in derben schwarzen Stiefeln. Ihre
Haut war dunkel, so wie seine eigene. Ihre Blicke trafen sich.
    »Die Tür unten war offen. Ich hab
mich in deinem Bad ein bisschen sauber gemacht. Ich hoffe, das ist okay?«,
sagte sie.
    Er erinnerte sich an das Blut,
das er in ihrem Gesicht gesehen hatte. Dafür klebte jetzt ein

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