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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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mochte. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger fester um den kleinen Trumpf
in ihrer Hosentasche. Sean hatte ihn ihr für alle Fälle aufgenötigt. In diesem Moment hatte sie sich dazu entschlossen, ihm endlich zu
vertrauen.
    Die logische Kehrseite dieses
Entschlusses war allerdings die Folgerung, dass das Böse, dem Lynn und Dutzende
andere zum Opfer gefallen waren, aller Wahrscheinlichkeit nach hinter der Tür
lauerte, die sich direkt vor ihr befand.
    Immerhin, sie
versuchte sich zu trösten, werde ich auf diese Weise endlich
die genauen Umstände von Lynns Tod erfahren.
    Sie ließ den Gedanken ein wenig
in ihrem Inneren nachhallen, doch es wollte kein Enthusiasmus daraus entstehen.
Im Gespräch mit Sean mochte es sich noch wunderbar vernünftig angehört haben.
In der unwirklichen Atmosphäre des alten Gemäuers aber fragte sie sich ernsthaft,
warum sie es überhaupt so genau wissen musste. Möglicherweise stand sie gerade
kurz davor, den feinen Unterschied zwischen mutig und lebensmüde zu verkennen.
Ihre Angst drohte, die Oberhand zu gewinnen.
    Okay, Saïna
Amri, ermahnte sie sich innerlich. Du kannst das!
    Alle furchtsamen Gedanken
unterdrückend ergriff sie eine der bronzenen Löwenpranken, aus denen die
Türgriffe der beiden Flügel bestanden, und zog daran.
    Nichts tat sich.
    Erst als sie sich mit ihrem
ganzen Körpergewicht an die Tür hängte, bewegte sich der Flügel mit lautem Ächzen
und gab Stück für Stück den Blick auf den dahinter liegenden Raum frei.
    Sie trat ein, sah sich um. In
einer der vorderen Ecken des Raums befand sich ein hölzerner Paravent, der eine
kleine Garderobe abtrennte, und halb dahinter verborgen saß eine Frau hinter
einem mächtigen alten Schreibtisch mit Computerbildschirm und altmodischer Gegensprechanlage.
    Ein weißes, dunkelrot gepunktetes
Kleid umhüllte ihre knochige Gestalt. Sie war blond, schlank und überaus blass.
    So blass wie
der Tod.
    »Hallo«, sagte Saïna und trat vor
den Schreibtisch.
    Die Frau reagierte nicht, sondern
starrte Saïna nur mit weit aufgerissenen Augen an, als wolle sie sie dadurch
bannen. Sie war Saïna geradezu unheimlich. Ein fleischgewordenes Mahnmal
manischen Misstrauens.
    »Guten Tag. Ich bin Saïna Amri«,
machte sie einen zweiten Versuch, dann zuckte sie heftig zusammen, denn der
große Türflügel hinter ihr fiel krachend zu.
    Wiederum keine Reaktion von der
Frau hinter dem Schreibtisch.
    Dann fiel Saïna auf, dass die
Frau sie gar nicht ansah, sondern durch sie hindurchzublicken schien. Ihr Blick
war völlig starr, ihre Augen wirkten wie zwei leblose Glasmurmeln. Sie wirkte
fast wie ein … Wie ein ausgestopftes Tier.
    O mein Gott.
    Für einen Moment wollte Saïna auf
dem Absatz kehrtmachen und davonlaufen, dennoch blieb sie wie angewurzelt
stehen. Ihr Magen drohte zu rebellieren, als sie ihren schlimmen Verdacht
bestätigt sah. Die roten Punkte auf dem Kleid der Frau – das war getrocknetes
Blut, das aus unzähligen Wunden aus ihrem Oberkörper gesickert war, und aus
jeder dieser Wunde ragte der Kopf eines riesigen Nagels.
    Irgendjemand hatte sie
buchstäblich auf dem Stuhl festgenagelt. Auch ihre Hände, die auf dem Tisch
lagen, waren auf diese grausame Art an das Möbel festgehämmert worden. Saïna
verstand genug von Medizin, um zu wissen, dass sie noch gelebt haben musste,
als man ihr all diese Wunden zugefügt hatte. Auch in ihrem Hinterkopf und im
Nacken befanden sich Nägel, wie Saïna bei genauerem Hinsehen feststellte; sie
hielten den Kopf der Toten aufrecht.
    Was für ein
Mensch kann so etwas tun?
    Angst sickerte in ihre Glieder
wie ein eisiger Nebel. Das Gefühl der Übelkeit wurde unerträglich.
    Ich muss hier
raus! Sofort!
    Sie presste die Hand vor den
Mund.
    »Oh, wen haben wir denn da?«,
tönte in diesem Moment ein dröhnender Bass.
    Der Schock rieselte in heißen
Schauern über ihre Haut. Sie kannte die Stimme. Sie kannte sie nur zu gut. Sie
hatte sie schon einmal gehört, direkt neben ihrem Ohr, während der Mann, dem sie
gehörte, seine Hände um ihren Hals gelegt hatte.
    Sie fuhr herum …
    Und erstarrte.
    »Sie?«, ächzte sie fassungslos.
    »Nun ja«, antwortete Gouverneur
Vanderbilt heiter. »Immerhin ist das hier mein Amtssitz, nicht wahr? Wen haben
Sie denn sonst erwartet?«
    Saïna war völlig fassungslos.
Ungezählte Male hatte diese Visage von Plakaten väterlich auf sie hinabgelächelt.
Trotz der verkrusteten Blutflecke, die sein halbes Gesicht wie auch große Teile
seiner Kleidung

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