@ E.R.O.S.
wann sich dieser Verdacht bei ihm eingestellt hat, doch er beugt sich bereits über die Tastatur auf meinem Schreibtisch. Morgen früh wird ein digitaler Mensch, der meiner »Erin« Hintergrund verleiht, in der bürokratischen Gallerte eingepflanzt sein, die in den USA die Grundlage einer legalen Existenz bildet. Miles’ Vorarbeiten werden Brahmas erste ungläubigenVorbehalte ausräumen. Doch viel wichtiger als eine Sozialversicherungsnummer oder Adresse wird die Frau sein, die ich in meinem Geist und Herzen trage. Ein sinnliches Phantom namens Erin wandert noch immer ungebeten durch meine Träume, und obwohl ich mir nicht sicher bin, wie oder warum, weiß ich, daß sie mit meiner Hilfe den skrupellosen Mörder, den wir Brahma getauft haben, aufspüren und ins Grab bringen kann.
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I
n den Tagen nach Miles’ Auftauchen bestand mein faszinierendster Zeitvertreib darin, dem barocken Balzritual zwischen »Maxwell« und »Lilith« zu lauschen. Von der welterfahrenen, aber verbitterten Frau, die einen Bandenfick in einem College-Wohnheim über sich ergehen ließ, erweiterte Lenz seine Schöpfung schnell zu einer vielschichtigen Persönlichkeit, die es wert gewesen wäre, Weihnachten bei Oprah in der Talkshow aufzutreten. »Lilith« verspottete »Maxwell« manchmal, beantwortete dann wieder passiv alle Fragen, die er ihr stellte, so persönlich sie auch sein mochten. Ich kam zu dem Schluß, daß Lenz sein gefühlsmäßiges Rohmaterial tatsächlichen Fallgeschichten entnahm; viel davon hatte den haarsträubenden Klang der Wahrheit, den nur die Wirklichkeit verschaffen kann. Würde ein anständiger Romancier solche Zwischenfälle schildern, würde sein Manuskript mit Pauken und Trompeten durchfallen. Während der Gespräche erkundete »Maxwell« »Liliths« Vergangenheit mit lapidarer Präzision, hier eine Drehung, dort ein leichter Klaps, und erstellte dabei allmählich ein Bild der »Frau«, die sich hinter dem Pseudonym verbarg.
Miles verbrachte den Großteil des ersten Tages damit, das digitale Skelett zu errichten, das meine fiktive »Erin« tragen würde. Wir wählten als »richtigen« Namen Cynthia Griffinund entschlossen uns, sie in Vicksburg wohnen zu lassen, einer Stadt, die etwa sechzig Kilometer südwestlich von Rain liegt. Wir sprachen über die Möglichkeit, daß eine Adresse in Mississippi bei Brahma vielleicht die Alarmglocken klingeln lassen würde, doch die Mundpropaganda bei meinen alten Freunden hatte die Zahl der EROS-Abonnenten in Mississippi mittlerweile auf über dreißig erhöht. Miles hielt diese Zahl für ausreichend, um eine weitere neue Kundin als ganz natürlich erscheinen zu lassen.
Nachdem Miles »Cynthias« persönliche Daten in die entsprechenden Regierungscomputer gehackt – und unter ihrem Namen ein EROS-Konto eröffnet – hatte, machte er sich daran, das Programm seines Trojanischen Pferdes zu kodieren, wobei er gewaltige Mengen von Mountain Dew und MüsliRiegeln verzehrte, die Drewe aus dem K-Markt in Yazoo City herankarrte. Dabei saß er nur selten vor dem Computer. Nachdem Drewe morgens zur Arbeit gefahren war, nahm er in einem Sessel im Wohnzimmer Platz, dessen Vorhänge zugezogen blieben, stärkte sich mit diesem Drecksfraß und sah sich mit glasigen Augen drei oder vier Filme im Satellitenfernsehen an. Gelegentlich sprang er auf und eilte in mein Büro, setzte sich vor seinen Laptop, tippte etwas ein, hielt dabei den Kopf seltsam schräg und murmelte leise vor sich hin.
Drewe fuhr jeden Tag zur Arbeit, rief aber häufig an, um nachzufragen, wie die Überprüfung der Inhaberinnen anonymer Konten voranging. Am zweiten Abend schickte Jan Krislov uns gegen Mitternacht eine E-mail und teilte uns mit, daß die zweiundfünfzig Frauen, auf deren Konten in den vergangenen Monaten nur schwache Bewegungen vorgekommen waren, alle lebten und wohlauf waren. Das schlug ein klaffendes Loch in Drewes Theorie von einer weiteren Vermißten und damit auch in ihre gesamte Zirbeldrüsen-Theorie. Glaubten wir zumindest.
Als wir Drewe Jan Krislovs Nachricht mitteilten, stand sie an meiner Bürotür und wollte gerade zur Arbeit fahren. Sieschaute vielleicht eine halbe Minute lang verwundert drein; dann flackerte in ihren Augen die Erkenntnis auf.
»Ich war so dumm «, sagte sie. »Die Vermißte kann keine EROS-Kundin sein. Die EROS-Population ist nicht groß genug, um eine Auswahl von Spenderinnen mit dem passenden Gewebe zu ermöglichen. Versteht ihr? Die EROS-Frauen verschafften dem Mörder die
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