Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
@ E.R.O.S.

@ E.R.O.S.

Titel: @ E.R.O.S. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
bestätigen oder widerlegen. Er sah allerdings ganz bestimmt nicht wie seine Mutter aus, eine zierliche, gehetzt wirkende Frau. Er war sogar als Kind schon groß, nur Knochen und Sehnen, was in einer Kleinstadt normalerweise dazu führt, daß der Schulsport einen vereinnahmt. Doch Miles war die personifizierte Apathie. Als der Trainer ihn überreden wollte, Basketball zu spielen, sah er den Mann einfach nur an, bis der es aufgab. Das wurde bei den Erwachsenen zur vorherrschenden Reaktion. Miles’ Augen sind gräulich blau, und wenn er es nicht will, kann man nicht das geringste in ihnen sehen. Sie sind wie ein Stück Hintergrund auf einem Fenster mit Glasmalereien. Die reine Leere. Doch wie am Himmel kann in ihnen alles zum Leben erwachen, von Gewitterwolken bis hin zu strahlend blauem Licht.
    Der örtlichen Gerüchteküche zufolge war Miles’ Vater ein schäbiger Trunkenbold und begabter Ingenieur, der dem Army Corps of Engineers 1973 geholfen hatte, eine schlimme Überflutung mit Sandabbrüchen am Uferdamm westlich von Mayersville unter Kontrolle zu bringen. Deshalb sagten die Leute, Miles habe den Grips von seinem Vater geerbt. Miles haßte sie dafür. Er verabscheute jeden, der das je sagte. Ich glaube, er faßte das als Beleidigung seiner Mutter auf, die – und da lagen die Gerüchte gar nicht so falsch – nicht gerade eine Atomphysikerin war. Doch Annie Turner war auf ihre Weise durchaus clever. Sie hat nie wieder geheiratet (oder, soweit man es in der Stadt wußte, sich auch nur scheiden lassen), doch es gelang ihr in Zeiten finanzieller Not immer wieder, Bekanntschaften mit gewissen solventen Herren zu machen (zum Beispiel Eisenbahnern), die auf ihren Reisen durch Rain kamen.
    Miles hat nie von einem dieser Männer gesprochen. Wennsie bei seiner Mutter waren, hielten wir uns von Mittag an von ihrem Haus fern. Als wir einmal während der Schonzeit Jagd auf Eichhörnchen machten, liefen wir zum Haus der Turners, um uns ein paar .22er-Patronen aus dem Schrank zu holen, und sahen einen Mann, der mit nacktem Oberkörper in der Küche stand und Milch aus einer Tüte trank. Er sah für uns (wir waren damals zwölf) uralt aus, und Milch tropfte sein Kinn herab. Als wir wieder rausgingen und Miles die Patronen in die .22er fingerte, wurden seine Augen plötzlich glasig, und er ging ein paar Schritte zum Haus zurück, und bevor ich noch ausspucken konnte, jagte er zwei Kugeln durch die obere Scheibe des Küchenfensters. Als ich mich auf ihn warf und ihn zu Boden riß, fühlte ich, daß seine Schultern wie die Flanken eines Pferdes zitterten, das sich gerade fast zu Tode gerannt hatte. Ich mußte ihm ins Gesicht schlagen, um ihm das Gewehr abzunehmen, und dann liefen wir, als sei der Teufel hinter uns her, bis wir niemanden mehr hinter uns schreien hören konnten. Danach sprach Miles zwei Stunden lang kein einziges Wort. Wir gingen einfach über die unkrautüberwucherten Wege zwischen den Baumwollfeldern und schlugen die harten, knotigen Stengel, die alle nur Nigger-Prügel nannten, gegen den rostigen Stacheldraht. Ich ging bei Anbruch der Dämmerung nach Hause. Ich weiß nicht, ob Miles überhaupt nach Hause ging.
    Aber sie kamen irgendwie schon klar. Annie schaffte es sogar, die Gebühren für die Privatschule aufzubringen, auf der sie Miles angemeldet hatte, bis ihr irgendwann klar wurde, daß die Schule sie bezahlen würde, damit sie Miles bloß nicht herunternahm. Denn Miles Turner war ein Genie. Ich sage das, weil ich zwar in der Schule klar kam, ohne mich großartig anzustrengen, Miles hingegen sich überhaupt nicht bemühen mußte. In der neunten Klasse konnte er Algebra-Textaufgaben lösen, nachdem er nur einen Blick darauf geworfen hatte. Er mußte nie etwas schriftlich machen. Nachdem wir alle den berufsbezogenen Eignungstest der Streitkräfte absolviert hatten, rief irgendein Major der Army aus Washingtonan, sprach mit dem Direktor und bat, mit Miles sprechen zu dürfen. Er sagte etwas in der Art, daß sie Miles mit Kußhand nehmen würden, sobald er volljährig sei. Miles antwortete dem Major, er würde erst in die Army eintreten, wenn russische Fallschirmjäger im Garten seiner Mutter landeten. Der Major erwiderte, diese Möglichkeit sei gar nicht so unwahrscheinlich. Er verriet Miles auch, daß Greenville wegen seiner Brücke über den Mississippi ein bestätigtes Ziel russischer Atomraketen sei. Miles sagte, wenn die Russen eine Atombombe auf Greenville werfen wollten, würde er sich vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher