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@ E.R.O.S.

@ E.R.O.S.

Titel: @ E.R.O.S. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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versuchen, die Tagesdecke zurückzuschieben, als sie den Kopf hebt und mir in die Augen sieht.
    »Ich gehe nicht zurück«, flüstert sie. Ihr Mund ist nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. »Ich kann es nicht.«
    »Erin, du ...«
    Sie legt einen Finger auf meine Lippen und schüttelt den Kopf. Ich fühle, wie ihre andere Hand in das Haar auf meinem Hinterkopf gleitet.
    »Mama?«
    Ich erstarre.
    »Mama?«
    Es ist Holly. Sie ist allein in einem fremden Bett aufgewacht.
    Erin ruckt hoch; ihr Kopf ist so aufmerksam und starr wie der einer Dammgeiß, die Gefahr spürt.
    »Maaammaaa!«
    Erin gleitet anmutig und schnell aus dem Bett, ihr hauchfeines weißes Nachthemd blitzt durch den Raum. Sie bleibt an der Tür stehen, schwebt dort wie ein Schleier. Dann gleitet sie zu mir zurück, schnell, aber anscheinend etwas ziellos. Eine helle Lichtsense schneidet über den Boden meines Büros. Die Flurbeleuchtung.
    Drewe.
    »Daaddee!« jault Holly.
    Daddy? Ich taste unter der Matratze nach dem .38er, während Erin mitten im Zimmer stehen bleibt, offensichtlich hin und her gerissen zwischen dem Drang, ihr Kind zu beschützen,und der Befürchtung, mit ihrem Schwager im Dunkeln erwischt zu werden. Ist Patrick in das Haus eingedrungen? Oder ruft Holly aus Gewohnheit nach ihm?
    Ich höre Schritte im Korridor.
    Als ich mich mit dem Revolver in der Hand erhebe, verschwindet Erin durch die Tür. Sekunden später hört Holly zu weinen auf. Ich drücke ein Ohr gegen die Wand und höre, wie Drewe sagt: »Alles in Ordnung, Schätzchen. Mama muß im Badezimmer sein.« Dann Hollys höhere Stimme, noch ganz schläfrig: »Mama macht Pipi, Tante Drewe?«
    Wie zur Antwort wird die Toilette am Ende des Ganges gespült. Ich höre das schnelle Trippeln von Schritten, dann Erins Stimme durch die Wand: »Tut mir leid, daß sie dich geweckt hat. Ich mußte pinkeln. Ich dachte nicht, daß sie wach wird. Das liegt wohl am fremden Haus.«
    »Ich habe im Bad kein Licht gesehen«, erwidert die stets logische Drewe. »Ich dachte, hier stimmt etwas nicht.«
    Eine Pause. »Ich bin es gewöhnt, fremde Badezimmer auch im Dunkeln zu finden.«
    Dann eine noch längere Pause. »Das macht mich traurig, Erin.«
    Meine Ohrmuschel schmerzt, weil ich sie so fest gegen die Wand drücke, aber ich will nichts von diesem Gespräch verpassen. »Ist alles in Ordnung?« sagt Drewe nach einem langen Schweigen. »Wird sich eine Lösung finden lassen?«
    »Ich hoffe es. Sprechen wir nicht mehr darüber.«
    »Worüber sprechen?« fragt Holly mit verschlafener Stimme.
    »Über unsere Arbeit, Süße.«
    »Erzähl mir eine Geschichte, Mama.«
    »Wir gehen jetzt schlafen, Schätzchen.«
    »Ich will eine Geschichte hören!«
    »Leg dich schon mal hin«, sagt Drewe. »Ich erzähle dir eine Geschichte.«
    Und sie läßt sich aus dem Stegreif eine einfallen. Es ist eine Geschichte von einem König mit zwei Töchtern, beidewunderschön und klug, aber beide glauben, eine dieser Eigenschaften fehle ihnen jeweils. Wir alle lauschen gefesselt und bemerken die allegorische Darstellung von Drewe und Erin, wie sie sich durch unzählige Prüfungen kämpfen, und wir alle wissen, daß Drewe die Fäden schließlich zu einem glücklicheren Ende verweben wird, an das sie so inbrünstig glaubt, und sind dankbar dafür. Das ist die übernatürliche Gabe meiner Frau, ihr Optimismus, und in den Schatten vor Anbruch der Dämmerung ist es ein Beweis gegen die Verzweiflung. Während sie spricht und ihre Stimme mir wie ein Licht im Dunkeln vorkommt, wird mir klar, daß Drewe das lebende Urbild der mütterlichen Liebe ist. Erin und ich kämpfen noch in einem Stadium gehemmten Wachstums, sind uns unserer Natur noch unsicher oder bemühen uns noch, sie zu akzeptieren. Drewe hingegen strahlt auch ohne ein natürliches Objekt ihrer Zuneigung Wärme und nährende Liebe aus, wie eine warme Quelle, die durch eine Felssohle fließt. Ich bin das einzige Hindernis für die Erfüllung ihrer Träume, und ganz tief in meinem Inneren weiß ich, falls ich auf dieser Welt irgendeine Pflicht habe, dann die, dafür zu sorgen, daß diese Träume sich erfüllen.
    Nachdem die beiden Prinzessinnen ihre Eltern zur letzten Ruhe gebettet haben und übereingekommen sind, das »Königinnenreich« – eine Vorstellung, auf die Hans Christian Andersen offensichtlich nicht gekommen ist – gemeinsam zu regieren, sagt Drewe »Nacht-Nacht« zu Holly. Ich rechne damit, daß sie in unser gemeinsames Schlafzimmer zurückkehrt, doch statt

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