Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
Autoschlüssel und war schon halb zur Tür hinaus, als Pippa plötzlich sagte: »Ich bin mit Ihnen zur Schule gegangen, nicht wahr?«
Zoë drehte sich langsam um. »Ich wollte nicht davon anfangen.«
»Sie waren gut in Sport, und Sie waren clever. Wirklich clever. Sie waren bei jeder Prüfung die Beste. Sind Sie auf die Uni gegangen? Alle haben gesagt, das würden Sie tun.«
»Zur Uni? Nein, ich bin ausgestiegen. Bin um die Welt gereist und dann wieder hier gelandet. Hat meinem Vater finanziell das Kreuz gebrochen, mich und meine Schwester aufs Internat zu schicken, und Sie sehen, wie ich es ihm gedankt habe.« Sie lächelte wehmütig. »Ich bin zur Polizei gegangen.«
»Ich wusste nicht, dass Sie eine Schwester hatten.«
»Nein«, sagte Zoë langsam. »Sie war auf einer anderen Schule – da ging es sanfter zu als auf unserer. Eine Schule, die gute Ehefrauen hervorbringt.«
»Warum waren Sie auf verschiedenen Schulen?«
»Ach, wissen Sie«, sagte Zoë ausweichend, »wir sind nicht gut miteinander ausgekommen. Wie Sie vorhin sagten – es ist erstaunlich, dass man die gleichen Gene kombinieren und trotzdem zwei völlig verschiedene Personen herausbekommen kann.«
»Und Sie?«, fragte Pippa. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
Pippa holte Luft, um zu antworten – und in dieser Sekunde, in dieser winzigen Pause, sah Zoë die Risse. Das menschliche Wesen, das da verborgen war. Als hätte die verängstigte Pippa Wood, die nicht wusste, wo sie anfangen und wo sie aufhören sollte, dieses Grauen zu verarbeiten, zu den Augen herausgeschaut. Es war nur ein Aufblitzen, ein flüchtiger Moment, ein panisches, schreiendes Picasso-Gesicht, die schreckliche Angst davor, dass Zoë sagen könnte: O ja. Ich habe eine wunderschöne Tochter. Genau wie Lorne. Nur, dass sie noch lebt . Es war primitiver menschlicher Neid – der Neid der Kranken, Trauernden und Alten auf die Jungen und Gesunden. Die Lebenden. Dann war dieser Blick wieder verschwunden, und die Maske der Ruhe war wieder da.
»Auf Wiedersehen.« Sie wandte sich schroff ab und schloss die Tür.
Zoë stand draußen in der Sonne, umgeben vom Dröhnen von Mr. Woods Motorsäge und dem leisen Tuckern eines Kahns, der auf dem Kanal vorbeifuhr.
17
Auf der Arbeit redeten die Leute den ganzen Tag von Lorne Wood. Überall, wo Sally putzte, erwähnte jemand den Fall, schüttelte den Kopf und stellte fest, wie schrecklich das alles sei – als handelte es sich um eins der eigenen Kinder. Sally wollte nicht groß darüber sprechen, sie wollte nicht daran denken, wie leicht es auch Millie hätte sein können. Am Morgen hatte sie die verwischte Tarotkarte aus dem Stapel genommen und in einer Schublade versteckt. Die restlichen Karten waren in ein Tuch gewickelt in ihrer Schultertasche, denn heute arbeitete sie in der Nähe des Hippie-Shops, und vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, hineinzugehen und sie dem Eigentümer zu zeigen. Aber am Ende brachte sie den Mut nicht auf. Sie legte sie in den Kofferraum des Wagens und versuchte, nicht mehr daran zu denken.
Heute war der Tag, an dem sie Millie manchmal von der Schule abholte, statt sie den Bus nehmen zu lassen. Sie parkte auf der Straße gegenüber zusammen mit den anderen Müttern, die durch das offene Wagenfenster das Schultor im Auge behielten. Nial und Peter kamen heraus und gingen vorbei; sie grüßten mit erhobener Hand, und kurz darauf kam Sophie allein. Kaum hatte sie Sally entdeckt, kam sie auf den Wagen zugelaufen. »Mrs. Benedict, Millie ist noch im Klassenzimmer. Sie möchte, dass Sie zu ihr kommen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Sie ist ganz außer sich.«
Sally schloss den Wagen ab, ging eilig ins Schulgebäude und lief durch die Gewölbegänge. Das Klassenzimmer lag am anderen Ende der Schule, ein sehr altmodischer Raum mit Regalen voller Bücher und Lernmaterialien. Das Licht fiel durch hohe Bogenfenster herein. An einem der Pulte, die den Fenstern zugewandt waren, saß Millie und ließ den Kopf hängen. Als sie hörte, wie die Tür aufging, drehte sie sich um. Ihr Gesicht war straff angespannt, als habe eine Hand von hinten ihren Kopf gepackt und drehe ihn gewaltsam um.
»Mum.«
Sally kam zu ihrem Pult. »Alles okay? Ich hab Sophie getroffen.«
»Ich fühl mich nicht wohl, Mum. Kannst du durch die hintere Einfahrt hereinfahren und mich neben der Turnhalle abholen?«
»Was ist denn los? Du hättest anrufen sollen.«
»Es ist nichts. Ich meine – mein Bauch tut weh. Nur ein bisschen
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