Atemlos
sprechen Sie eigentlich von Paul immer nur in der Vergangenheitsform?«
Wieder sah sie mich verschreckt an. »Ich … ich weiß nicht …« Sie flocht die Finger ineinander. »Ich glaube, er ist tot.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß nicht. Aber einen anderen Grund kann ich mir für sein Verschwinden nicht vorstellen.«
»Diese Ungerechtigkeitsneurose – richtete sie sich auch gegen ihn selbst? Glaubte er, daß auch er ungerecht behandelt wurde?«
Sie sah mich geradeheraus an und sagte fest: »Nie! Er machte sich immer nur Sorgen um andere. Schauen Sie, Mr. Stafford, ich will offen sein. Paul war nicht …«, sie fing sich, »… nicht überintelligent. Da Sie für den Werkschutz bei der ›Franklin-Technik‹ zuständig sind, will ich Ihnen gleich sagen, Paul ist kein Dieb und Spitzbube. Sein seelisches Gleichgewicht mag gestört sein, aber unehrlich ist er nicht.«
»Daran besteht kein Zweifel, Miß Aarvik. Meine Ermittlungen gelten Paul ebensosehr wie der Firma. Der Firma liegt auch das Schicksal ihrer Angestellten sehr am Herzen.«
Das war eine fromme Lüge, aber ich hoffte, sie würde das schlucken. Stewart oder Isaacson wären die letzten, die sich wegen eines Angestellten eine unruhige Minute machten.
Sie sagte: »Paul wußte … weiß, daß er es in dieser Welt nie zu etwas bringt, aber das hat ihn nie verbittert. Ich weiß, daß es ihm schwerfiel, mit nur zweihundert Pfund im Monat zurechtzukommen. Aber beklagt hat er sich nie.«
Ich machte den Mund auf, um ihr zu widersprechen, aber dann machte ich ihn fest wieder zu. Ich wartete zehn Herzschläge ab, ehe ich sagte: »Mehr hat er nicht bekommen?«
»Zweitausendvierhundert im Jahr – mehr war er wohl nicht wert«, sagte sie ein wenig traurig. »Aber das haben Sie ja wohl überprüft.«
»Ja«, sagte ich nachdenklich. »Die genauen Zahlen waren mir entfallen.«
Paul hatte also seine Schwester beschwindelt, hatte ihr erzählt, nur zwo-vier im Jahr zu verdienen, während er in Wirklichkeit dreimal soviel kassierte, wenngleich er auch nach den Worten von Hoyland – und nun auch seiner Schwester – wahrlich mehr nicht wert war. Da glaubt man, einen Mann kategorisiert zu haben, sein Leben vor sich ausgebreitet zu sehen wie einen Schmetterling hinter Glas – und dann stolpert man plötzlich von einer Unstimmigkeit in die andere.
Ich sagte: »Haben Sie ihm finanziell ausgeholfen?«
Sie zögerte. »Nicht direkt.«
Behutsam zog ich ihr die Geschichte aus der Nase. Die Mutter war lange krank gewesen und schließlich unter großem Leiden an Krebs gestorben. Alix hatte ihrer Mutter eine Krankenschwester und die Krankenhauskosten bezahlt und schließlich, am Ende, auch noch die Kosten für die Privatbehandlung durch einen teuren Spezialisten übernommen – alles das sind in England lauter Dienstleistungen, die weit über die Minimalversorgung der staatlichen Gesundheitsfürsorge hinausgehen und somit aus eigener Tasche beglichen werden müssen. Das war alles sehr teuer gewesen und hatte sämtliche Ersparnisse von Miß Aarvik aufgefressen.
»Und dann mußte Paul in Behandlung«, sagte sie. »Zu dem Psychiater, von dem ich Ihnen erzählt habe.«
Der Psychiater führte eine Privatpraxis und war auch entsprechend teuer.
Miß Aarvik hatte eine Vereinbarung mit dem Filialleiter ihrer Bank getroffen, der ihr trotz der vorherrschenden Kreditbeschränkungen einen ansehnlichen Überziehungskredit eingeräumt hatte. »Ich zahle das ab, so schnell ich kann.« Sie lächelte wehmütig. »Deshalb bin ich ja auch so froh über den Job in Kanada. Mein Gehalt ist dort viel höher.«
Aber Paul Billson hatte zu alldem nichts beigetragen.
»Ich wußte ja, daß er sich nichts absparen konnte«, sagte sie. »Was hätte ich also sonst machen sollen?« Ja, was hätte sie machen sollen? Ich dachte an die zwölftausend Pfund, die Paul in Festgeldern angelegt hatte, und schloß einen philosophischen Gedanken über die seltsamen Irrwege der Menschheit an. Da gab es also einen Mann, der von aller Welt für ein Nichtwesen gehalten wurde – eine rückgratlose, gesichtslose Kreatur, kaum von einer Qualle zu unterscheiden – und nun erwies er sich auf einmal als so menschlich wie alle anderen. So menschlich, daß er nie die Chance seines Lebens aus dem Auge verlor und seine Schwester gnadenlos auf die Rolle nahm. Woraus auch gleich wieder einmal erhellt, welche – gelinde gesagt – säurehaltigen Ansichten ich vom charakterlichen Zustand der Menschheit
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