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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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in der Kantine, in der Arbeit beim Auf- und Abladen, beim Hocken in der Rauchpause, auch beim Tangotanzen teilten wir uns die Läuse.
    Wir wurden mit der Nullermaschine kahlgeschoren, die Männer in der Rasierstube von Oswald Enyeter. Die Frauen in einem Bretterverschlag neben der Krankenbaracke von der russischen Feldscherin. Beim ersten Kahlscheren durften die Frauen ihre Zöpfe mitnehmen und sie in den Koffer legen als Andenken an sich selbst.
    Ich weiß nicht, warum die Männer sich nie gegenseitig die Läuse fingen. Die Frauen steckten täglich die Köpfe zusammen, erzählten und sangen und fingen einander die Läuse.
    Der Zither-Lommer wusste schon im ersten Winter, wie man Wollpullover von Läusen säubert. In der Abenddämmerung bei gut unter null Grad Celsius gräbt man ein 30 Zentimeter tiefes Loch in die Erde, steckt den Wollpullover ins Loch, lässt einen fingerlangen Zipfel herausstehen und scharrt das Loch locker zu. In der Nacht kriechen sämtliche Läuse aus dem Pullover. In der ersten Morgendämmerung sitzen sie in weißen Klumpen auf dem Zipfel. Dann kann man sie alle auf einmal mit dem Schuh zertreten.
    Als es März wurde und die Erde nicht mehr metertief gefroren war, gruben wir Löcher zwischen den Baracken. Die Pulloverzipfel standen jeden Abend aus der Erde wie ein gestrickter Garten. In der Morgendämmerung blühte er mit weißem Schaum, wie Karfiol. Wir zertraten die Läuse und zogen die Pullover aus der Erde. Sie wärmten unswieder, und der Zither-Lommer sagte: Kleider sterben nicht einmal, wenn man sie begräbt.
    Sieben Jahre nach meiner Heimkehr war ich seit sieben Jahren ohne Läuse. Aber wenn ich Karfiol auf dem Teller habe, esse ich seit 60 Jahren die Läuse vom Pulloverzipfel in der ersten Morgendämmerung. Auch Schlagsahne ist bis heute kein Sahnehäubchen.
    Für die Entlausung gab es ab dem zweiten Jahr neben den Duschen jeden Samstag die ETUBA – eine Heißluftkammer mit über 100 Grad Celsius. Wir hängten unsere Kleider an eiserne Haken, sie zirkulierten an Rollen wie Laufkatzen im Kühlraum eines Schlachthauses. Das Rösten der Kleider dauerte länger, als wir im Duschraum Zeit und heißes Wasser hatten – ungefähr anderthalb Stunden. Nach dem Duschen standen wir nackt im Vorraum und warteten. Verbogene räudige Gestalten, nackt sahen wir aus wie ausgemustertes Arbeitsvieh. Geschämt hat sich keiner. Wovor soll man sich schämen, wenn man keinen Körper mehr hat. Aber seinetwegen waren wir im Lager, für körperliche Arbeit. Je weniger Körper man hatte, desto mehr war man durch ihn gestraft. Diese Hülle gehörte den Russen. Vor den anderen schämte ich mich nie, nur vor mir, wie ich mich früher kannte mit glatter Haut im Neptunbad, wo der Lavendeldampf und das schnappende Glück mich verwirrten. Wo ich nie an ausgemustertes Arbeitsvieh auf zwei Beinen dachte.
    Wenn die Kleider aus der Etuba herauskamen, stanken sie heiß und salzig. Der Stoff war versengt und brüchig. Aber während zwei, drei Entlausungsgängen wurden in der Etuba auch geschmuggelte Zuckerrüben zu kandierten Früchten. Ich hatte nie Zuckerrüben in der Etuba. Ich hatte eineHerzschaufel, Kohle, Zement, Sand, Schlackoblocksteine und Kellerschlacke. Einen Schreckenstag bei den Kartoffeln hatte ich, aber nie einen Tag bei den Zuckerrüben auf dem Feld. Nur Männer, die auf dem Kolchos Zuckerrüben auf- und abluden, hatten in der Etuba kandierte Früchte. Von zu Hause wusste ich, wie kandierte Früchte sind: glasgrün, himbeerrot, zitronengelb. Wie Schmucksteinchen steckten sie im Kranzkuchen und in den Zahnlücken, wenn man aß. Die kandierten Rüben waren erdbraun, geschält sahen sie aus wie glasierte Fäuste. Wenn ich die anderen essen sah, aß das Heimweh Kranzkuchen, und der Magen zog sich zusammen.
    In der Silvesternacht zum vierten Jahr, in der Frauenbaracke habe auch ich kandierte Rüben gegessen – eine Torte. Statt gebacken war sie gebaut von der Trudi Pelikan. Statt kandierte Früchte – kandierte Rüben, statt Nüsse – Sonnenblumenkerne, statt Mehl – Maisschrot, statt auf Tortentellerchen – auf losen Fayencekacheln aus dem Sterbezimmer der Krankenbaracke. Und dazu gab es für jeden eine Zigarette vom Basar – LUCKY STRIKE. Ich zog zweimal dran und war besoffen. Der Kopf schwebte mir von den Schultern und vermischte sich mit den anderen Gesichtern, die Bettgestelle kreisten. Wir sangen und schunkelten den Viehwaggonblues:
    Im Walde blüht der Seidelbast
    Im Graben liegt noch

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