Atevi 1 - Fremdling
Blickfeld gerückt. Zum Teufel auch, sie würden keinen Schaden anrichten. Die Einheimischen hatten eine hoch entwickelte Kultur und würden den Zuzug von Fremden ertragen und verkraften können. Warum hätten sie, die Menschen, aus lauter Rücksichtnahme auf eine lebenswerte Zukunft verzichten sollen?
Bren konnte diese Entscheidung der sechs oder sieben Generationen vor ihm lebenden Menschen sehr wohl nachvollziehen. Wie hätten sie ahnen können, was nicht einmal er wahrhaben wollte, nämlich daß die Atevi so andersartig sind? Der Eindruck der Ähnlichkeit drängte sich doch geradezu auf. Die Atevi hatten Lokomotiven, sie hatten Dampfmaschinen, eine Industrie.
Der äußere Anschein ließ keinen Rückschluß auf ihre Mentalität zu. Es war nicht schwer, Kontakt aufzunehmen. Hallo, wie geht es Ihnen; schönes Wetter heute. Wie war’s mit einem kleinen Handelsgeschäft? Ein bißchen Know-how im Austausch gegen eine Palette Fleischkonserven…
Schon war man ins Fettnäpfchen getreten, und jeder Vermittlungsversuch schien den kulturellen Graben weiter zu vertiefen.
Was hatten die ersten Siedler nicht schon alles falsch gemacht? Mißverständnis um Mißverständnis hatte sich angehäuft, ehe endlich klar wurde, daß Betrug nicht gleich Betrug ist, Mord nicht gleich Mord und daß man den Aiji einer Region nicht hofieren konnte, ohne mit allen anderen Mitgliedern des Weltverbandes in Konflikt zu geraten. Wer hätte voraussehen können, daß eine Zivilisation, die noch mit Dampfkraft hantiert, dermaßen subtil und weitreichend strukturiert ist?
Vor fünfzig Jahren hatten sich die Verantwortlichen auf Mospheira einen Ruck gegeben und ein Satellitenprogramm aufs Tapet gebracht in der kühnen Hoffnung, den technischen Fortschritt auf friedliche, kommunikative Zwecke auszurichten und gleichzeitig den Geboten von Biichi-gi und Kabiu Genüge zu tun.
Denn sie glaubten, die Atevi inzwischen ausreichend gut kennengelernt zu haben.
Möge Gott allen Narren und Touristen gnädig sein.
Bren blätterte in seinem Geschichtsbuch zurück, weil er bemerkte, daß er die letzten Seiten nicht richtig zur Kenntnis genommen hatte. Er versuchte, sich auf den Inhalt zu konzentrieren, vergeblich. Seine Gedanken kamen aus ihren engen Grenzen nicht heraus, pendelten hin und her wie ein gefangenes Tier zwischen Gitterstäben. Die gesuchten Antworten blieben unerreicht außen vor.
Wahrscheinlich waren alle Paidhiin vor ihm an einem solchen Punkt angelangt. Vielleicht war es Naivität, vielleicht sein kirremachendes Verhältnis mit dem freundlichsten aller Aijiin, daß er sämtliche, durchs Studium vermittelte Warnungen in den Wind geschlagen hatte und in dieselbe Falle getappt war wie die ersten Menschen auf diesem Planeten… die Illusion, daß Atevi und Menschen einander entsprechen, daß auf beiden Seiten der Wunsch vorliegt, in Harmonie zusammenzuleben – in wechselseitiger Anerkennung der emotionalen Bedürfnisse des jeweils anderen.
Statt dessen lag er hier auf Eis.
Es drängte ihn zurück nach Shejidan. Er wollte seine Geschäfte wiederaufnehmen, Tabini zur Seite stehen, der ihn womöglich dringend nötig hatte. Ach, eitler Gedanke. Würde der Aiji tatsächlich nicht ohne ihn auskommen können, hätte er ihm gewiß nicht das Fernsehteam nach Malguri geschickt, um der Welt zu zeigen, was der Paidhi doch für ein netter, anständiger Kerl ist, ganz und gar kein finsterer Unhold, der mit seinesgleichen konspiriert in der Absicht, atevische Städte mit Todesstrahlen zu vernichten.
Ich werde Sie nie hintergehen, Bren-ji.
Was hatte dieser Ausspruch bloß zu besagen, den Jago zwischen Tür und Angel von sich gegeben hatte, worauf sie davongerannt war, als ginge es um Leben oder Tod?
Und wo war die Pistole, Jago? Wo war Banichis Pistole?
Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt; funkensprühend zerbrach ein ausgeglühtes Holzscheit. Er legte nach und widmete sich wieder dem Buch.
Von Banichi oder Jago war kein Wort zu hören über das, was sich neuerlich zugetragen hatte, ob wieder jemand versucht hatte, durch das Sicherheitsnetz zu schlüpfen, ob bloß ein weiterer Gast vom Flughafen abzuholen oder aber einer dringenden Forderung von Tabini nachzukommen war.
Wieder hatte er den Faden der Lektüre verloren und mußte zurückblättern, sich auf den Text konzentrieren, auf den antiquierten Stil atevischer Geschichtsschreibung.
Das Licht ging an und wieder aus.
Verdammt, dachte er und blickte durchs Fenster. In Nieselregen und graue
Weitere Kostenlose Bücher