Atevi 1 - Fremdling
Gedanken mehr fassen. Seine Hände waren klamm. Es packte ihn die Wut über das gemeine Spiel, das man mit ihm trieb. Er hatte Cenedi geglaubt. Er hatte das Kellerverhör ernst genommen und schon mit seinem Leben abgeschlossen, als ihm die Pistole an den Kopf gedrückt worden war. Er hätte vorher wetten können, daß ihm in einem solchen Moment Barb in den Sinn kommen würde, seine Mutter, Toby oder irgendeine noble, menschliche Empfindung, aber nein, er hatte das Bild verschneiter, einsamer Berge vor Augen gehabt. So weit war er gebracht worden, daß für ihn mittlerweile Liebe und Menschlichkeit zurückstanden hinter dem Bedürfnis, allein zu sein, frei von allen Forderungen, die an ihn gestellt wurden.
Unwillkürlich schlug er die Hand vors Gesicht, um sich seine Erschütterung nicht anmerken zu lassen, die ihm das Wasser in die Augen trieb. Die Nerven, der psychische Zusammenbruch nach der Krise… immerhin eine menschliche oder natürliche Reaktion, wie er sie schon so lange nicht mehr hatte zulassen dürfen.
»Nadi.« Giri stand vor ihm, sichtlich verblüfft über das merkwürdige Verhalten des Paidhi, den die Aiji-Mutter zu schonen beschlossen hatte, weil er ihr nützlich sein konnte.
Wie gut, daß ich nicht ganz unnütz bin, dachte Bren und wischte sich die Augen. Er lehnte den Kopf zurück und entspannte sich durch bewußtes, regelmäßiges Atmen, bis er so ruhig und gelassen wirkte wie ein Ateva.
»Haben Sie Schmerzen, nand’ Paidhi. Soll ich einen Arzt holen?«
Giris Verwirrung mutete so komisch an, daß Bren zu lachen anfing, wider Willen und alles andere als befreiend. Geradezu hysterisch platzte es aus ihm heraus. Aber schon bald hatte er sich wieder gefaßt und trocknete ein zweites Mal die Augen.
»Nein«, sagte er, bevor Giri Alarm schlagen konnte. »Ich brauche keinen Arzt. Ich bin nur müde.« Er schloß die Augen, spürte die Tränen übers Gesicht rollen, atmete langsam und bedächtig und wähnte sich in einer Spirale aus Feuerwärme und Sauerstoffmangel trudeln, immer tiefer, einer schwindelnden Dunkelheit entgegen. Im Hintergrund waren besorgte Stimmen zu hören, die sich, wie es schien, über ihn unterhielten. Sei’s drum, dachte er.
Es waren meistens die Diener, die einen verrieten, Leute wie Djinana und Magi, Tano oder Algini. Aber unterm Geflatter der Banner, im Waffengeklirr und Rauch aus Ruinen verkehrte sich alles. Die Hölle brach aus. Oder vielleicht war’s das Fernsehen. Machimi- und Schattenspiele.
Blut auf der Terrasse, hatte Jago gesagt, als sie aus dem Regen ins Zimmer zurückgekehrt war und Banichis Gesicht im Spiegel auftauchte.
Wenn alles schläft, streicht das Ungeheuer in den Hallen Malguris umher auf der Suche nach seinem abgehauenen Kopf.
Das ist meine Pistole, hatte Banichi gesagt, was der Wahrheit entsprach. Er, Bren, war mißbraucht worden, so auch Banichi, nicht anders als Jago; sie alle waren mißbraucht worden in einem Spiel, das kein normaler Ateva verstand – genausowenig wie der den Streit verstehen konnte zwischen den Menschen, die auf der Station zurückgeblieben waren, und denen, die das Schiff genommen und sich zweihundert verfluchte Jahre lang abgesetzt hatten…
Die Menschen waren in ein Loch im Raum gestürzt und hatten keinen bekannten Stern entdecken können im Spektrum der tausend Sonnen, die auf den Bannern der Atevi flatterten, den Bannern, die Krieg erklärten und Besitzanspruch auf jene Welt, die den gestrandeten Fremden Hoffnung gemacht hatte auf ein Leben in Freiheit.
Bren lag still im Sessel, lauschte auf das Knistern im Kamin, ließ die Kopfschmerzen in Wellen kommen und gehen, erschöpft, wie er war, emotional und physisch, mit Schmerzen an dutzend Stellen, die die Wärme des Feuers ein wenig zu lindern vermochte und halbwegs erträglich waren, solange er sich nicht rührte.
Die Raumstation zu einer Basis ausbauen und dann im Umkreis der benachbarten Sterne nach Rohstoffen suchen – das hatte die Pilotengilde für sich zu tun beschlossen, und es war ihren Leuten schnurzegal gewesen, wie die Techniker und Bauarbeiter da unten auf dem Planeten zurechtkommen würden. Jedes Kind auf Mospheira kannte diese Geschichte, wußte vom Verrat der Phoenix -Mannschaft, und darum hatten sie mit denen da oben längst gebrochen. Und Zeit vergeht nicht im Flug, sie tickt langsam, und nur im Märchen gibt es einen hundertjährigen, bewußtlosen Schlaf.
In den Märchen der Atevi oder denen der Menschen? Bren hatte vergessen.
Gänsiin und goldene
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