Athyra
könnte, wenn er sich der Geschichte zuwandte. Er fragte sich, was Meister Wack denken würde, wenn er ihn um ein Geschichtsbuch bat. Aber heute sowieso nicht.
Er schaute wieder ins Buch und las:
Die Großgewachsene sagt, das Geheimnis liegt in einem Lied und öffnet sich nur dem, der zu singen wagt. Es heißt, wenn sie singt, liegt das Geheimnis all jenen offen, die zuhören, doch ist es wieder verborgen, wenn das Lied vorüber ist, und wenig sind die Gesegneten, die Wahrheit in der Stille, die folgt, widerhallen hören.
Nun ja, Musik mochte er ganz gerne und Singen auch, aber wahrscheinlich steckte in diesem Abschnitt ein mystischer und machtvoller tieferer Sinn, den er nicht verstand. Er zuckte die Achseln.
Der nächste Absatz lautete:
Die Rothaarige wickelt das Geheimnis immer fester in Strähnen aus Wörtern, so daß es verschwindet, als habe es nie bestanden, und in diesen Wortschichten taucht das Geheimnis strahlend auf, so daß es jenen verborgen ist, die hinschauen, jenen aber eröffnet wird, die mit Freude die Muster und Klänge der Worte entfalten.
Hier lag bestimmt eine mystische und machtvolle Bedeutung, und er verstand sie bestimmt nicht. Er versuchte sich vorzustellen, wie etwas in Wörter gewickelt wird, aber er sah nur das Bild der schwarzen Buchstaben aus dem Buch vor sich, die, von der Seite losgelöst, sich an etwas Unbestimmtes hefteten und es erstickten.
Er las:
Der Grünäugige weiß, wo das Geheimnis liegt, denn seine Augen durchdringen jeden Schattenort; doch kaum findet er das Geheimnis, begräbt er es erneut. Aber es heißt, daß das Geheimnis sich im Begraben verändert, und das ehedem Verborgene wandelt fortan ewig übers Land und wartet allein auf einen, der es erkennt und ihm Zuflucht bietet.
Das ergab nun überhaupt keinen Sinn. Wenn er wußte, wo die Geheimnisse liegen, wieso wollte er sie dann verstecken? Und wer waren diese Zauberer eigentlich?
Im Buch ging es weiter:
Der Dunkelhaarige lacht über Geheimnisse, denn sein Vergnügen liegt in der Suche, nicht in der Entdeckung – und die Pfade, die er auf seiner Suche beschreitet, entstammen Launen, nicht Plänen. Mancher sagt, daß er auf diese Weise ebensoviele aufdeckt wie andere.
Das war fast verständlich. Savn konnte sich vorstellen, wie das Suchen nach etwas mehr Spaß machte als das tatsächliche Finden. Er fragte sich, ob er selbst nach etwas suchte oder suchen sollte. Nach dem Geheimnis um Zaums Tod? Aber das würde er wohl kaum aufdecken können, wenn nicht mal Meister Wack etwas wußte.
Er las weiter:
Von der Sanftmütigen heißt es, daß sie Ordnung und Methode aller Dinge festlegt und daß auf diese Weise alles Verborgene gefunden werden kann. Für sie ist jede Einzelheit ein Wegweiser, und wenn alles an seinen rechtmäßigen Platz geordnet ist, wird der Umriß des Geheimnisses für jeden, der hinschauen will, offenliegen.
Hm, das war gewiß möglich, dachte Savn. Aber was macht man, wenn man gar nichts weiß?
Einen Abschnitt gab es noch auf der Seite:
Der Meister des Reimes sucht weiter nach dem Weg der Zauberer, denn für ihn ist er das größte Geheimnis überhaupt. Doch während er sucht, läßt er Wahrheiten fallen für jeden nach ihm, und darin sieht er kein Wunder, denn was dem einen offenbar, ist dem anderen ein Geheimnis. Oft wird er dafür gepriesen, doch ist es ihm bedeutungslos, denn wer unter den Menschen würde jauchzen, weil er Wahrheit entdeckt hat, die ihm nie verborgen schien?
Savn zuckte die Achseln. Auch das ergab beinahe einen Sinn. So, als konnte man etwas sehen und ein anderer vielleicht nicht, aber für einen selbst war es gar nichts Aufregendes, weil es ja eh immerzu vor einem lag.
Ihm kam der Gedanke, daß unter Umständen Dinge direkt vor ihm lagen, die er selbst nicht sehen konnte. Während er darüber sann, kehrte der Meister zurück und fragte: »Was liest du da?«
Savn zeigte ihm das Buch. Der Meister grunzte: »Darin steht nichts, was du gebrauchen kannst, wenigstens jetzt noch nicht. Warum gehst du nicht heim?«
Den Vorschlag ließ Savn sich nicht zweimal machen. Er legte das Buch ins Regal, verabschiedete sich und sauste durch die Tür, bevor der Meister es sich anders überlegen konnte.
Er rannte zu Tems Haus in der Erwartung, Vlad entweder draußen oder im Gemeinschaftszimmer zu finden, doch der Ostländer zeigte sich nicht. Wie er so dastand und überlegte, ob er sich traute, Tem zu fragen, in welchem Zimmer Vlad
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