Atlan 06 - Rudyn 03 - Acht Tage Ewigkeit
der ersten Reihe der Ehrenplätze über den Marmorbelag bis zu einem kreisrunden Podium, auf der ein im Moment noch verwaistes, mit vergoldeten Caluthblättern verziertes Pult den einzigen Redner des Tages erwartete. Tingguely vernahm das leise Geraune, mit dem sich die Politiker, Würdenträger und sonstigen Ehrengäste unterhielten. Aber er war zu aufgeregt, um den Gesprächsfetzen eine mehr als flüchtige Beachtung zu schenken.
Er verformte einen Plasma-Klumpen zu einem dicken Hautlappen, um die Heizelemente sicher darin einzuschließen. Niemand durfte sie zu sehen bekommen, das hatte ihm Atlan mehrfach eingeschärft. Ja, vor einem Tag hatte das alles höchst einfach und durchführbar geklungen. Doch jetzt?
Kampfroboter, überall. Scheibenförmige Beiboote schwebten über den Gebäuden. Zehntausende von waffenstarrenden Soldaten formten einen Sicherheitskordon in weitem Abstand rund um die Rednerplattform. Dahinter warteten Kampfpanzer in einer weiteren Zone. Erst dann kamen die Menschenmassen, die Ponter Nastases Rede live erleben wollten.
Mitten in der Menge stand eine Pressetribüne, auf der allein fast fünfhundert Journalisten aus allen Teilen der Galaxis saßen. Einer von ihnen lieferte den Livekommentar zum heutigen Staatsereignis.
»Bürgerinnen und Bürger«, schallte es über den weiten Platz. »Hier spricht Gero Gurebeler vom Sender GenSky. Bleiben Sie aufmerksam. Die heutige Rede wird allen friedliebenden Rudynern aus tiefster Seele sprechen. Mit der Politik ist es wie mit der Diplomatie …«
Tingguely verschloss seine Höröffnungen.
Die meisten geladenen Gäste hatten ihre Sitzplätze längst aufgesucht.
Tingguely nahm eine halbwegs humanoide Form an, als er sich der Tribüne näherte. Wie immer geriet ihm der Hals zu lang und der Kopf zu klein. Obwohl er oft heimlich übte, gelang es ihm nur selten, seinen weichen, formbaren Plasmakörper in den richtigen Proportionen zu stabilisieren.
Er hielt sicherheitshalber den Translator deutlich sichtbar an einem Pseudogliedmaß hoch, begrüßte einige der ihm bekannten Diplomaten, fand endlich sein Namensschild ganz links außen in der ersten Reihe und schmiegte sich schlotternd in dem ihm zugewiesenen Sessel. Er hoffte inständig, dass niemand sein Zittern bemerkte, das nur zum Teil von der Kälte herrührte. Und das einem Diplomaten nicht gut zu Gesicht stand. Wenn man denn ein Gesicht besaß. Tingguely verhärtete den Kopfteil seines Plasmakörpers, verhinderte so, dass er völlig seine Form verlor.
Wenn es doch nur wärmer wäre! Oder schon vorbei! Am besten beides!
Tingguely als Botschafter zu bezeichnen war fraglos irreführend. Er war an und für sich für die Pflege des Zellplasmablocks an Bord der BOX-3113 zuständig und daher alles andere als ein Diplomat.
Doch da der Posbiraumer nun einmal als offizielles Botschafterschiff der Hundertsonnenwelt deklariert und zu diesem Zweck nach Rudyn entsandt worden war …
Und da niemand in der ZGU mit einem Posbi – einem Robot! – diplomatische Beziehungen aufnehmen würde, war dem Matten-Willy die Rolle des Botschafters als einzigem eigenständigen Intelligenzwesen zwangsläufig zugefallen.
Und nun war er auch noch so etwas wie ein Geheimagent. Er war drauf und dran, in die Pseudoteleskop-Fußstapfen eines der berühmtesten Angehörigen seines Volkes zu treten. Eines Matten-Willys namens Willy, der vor rund siebenhundert Jahren fast ganz auf sich allein gestellt Terra vor der sicheren Vernichtung bewahrt hatte.
Tingguely wollte Stolz empfinden, aber er hätte stattdessen am liebsten ein Gebiss geformt, um sich auf die zitternden Pseudolippen zu beißen.
Als zwei schwerbewaffnete, schwarzuniformierte Soldaten beiderseits des Podiums ihre Positionen bezogen, wäre er beinahe kollabiert.
Keine Frage, er war nicht wie Willy gebaut. Er war ganz und gar kein Held. Er überlegte kurz, ob er Unwohlsein vorschützen und die Tribüne schnellstmöglich verlassen sollte. Atlan würde bestimmt dafür Verständnis haben. Ganz sicher. Oder nicht? Doch. Ja. Nein.
Bei allen hundert Sonnen! Warum nur ausgerechnet ich?
Er begann zu hyperventilieren. Schnell legte er einen dünnen Plasmalappen über seine Atemöffnung. Schnaufte hektisch in die Hautfalte.
Ah, das tat gut. Doch was war das?
Winzige Kameradrohnen, fliegenden Bällen gleich, verteilten sich surrend über dem Platz. Eine schwebte für einen Moment ganz dicht an Tingguely heran. Er glotzte mit einem Stielauge zurück, bis sie verschwand.
Ein
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