Atme - wenn du kannst!
überraschender Faustschlag in die Magengrube. Und es gab weit und breit keinen sichtbaren Anlass für dieses Gefühl. Emily konnte weder einen Hai noch eine Muräne oder ein anderes gefährliches Raubtier erblicken. Die einzigen Menschen in Reichweite waren Melanie und Kendall, doch von keinem der beiden ging auch nur die geringste Bedrohung aus.
Leider beruhigte Emily diese Tatsache überhaupt nicht. Ihr Verstand war beinahe völlig ausgeschaltet, während ihr Gefühl höchste Alarmbereitschaft signalisierte. Es kam ihr vor, als würde die Atemluft aus ihrer Sauerstoffflasche plötzlich nach altem Eisen schmecken. Sie riss sich das Mundstück des Atemschlauchs weg und zuckte hektisch mit Armen und Beinen.
In diesem Moment bemerkte Kendall ihren Zustand. Der Tauchlehrer wendete und kam pfeilschnell auf sie zugeschossen. Emily erkannte nicht mehr, dass er ihr nur helfen wollte. Sie schlug mit den behandschuhten Fäusten um sich, aber Kendall ließ sich davon nicht irritieren. Resolut drückte er ihr das Mundstück wieder zwischen die Lippen. Erst jetzt dämmerte es Emily ganz allmählich, in welcher akuten Lebensgefahr sie geschwebt hatte. Wenn Wasser in ihre Lunge eingedrungen wäre, hätte sie elend ertrinken können.
Emily konzentrierte sich nun ganz auf das Atmen. Sie füllte ihre Lungen mit Luft, und danach blies sie diese langsam wieder hinaus. Die Luftblasen bewegten sich von ihrem Mund aus Richtung Wasseroberfläche.
Die Panik kam immer noch in Wellen, war allerdings nicht mehr ganz so schlimm wie noch wenige Minuten zuvor. Doch Emily reichte es. Obwohl das Wasser angenehm warm war und sie einen Neoprenanzug trug, wurde sie innerlich von einer Eiseskälte erfasst. Sie glaubte, gelähmt zu sein und keinen Finger mehr rühren zu können. Es war ein entsetzliches Gefühl. Außerdem wurde ihr Gesichtsfeld immer kleiner. Emily bekam einen richtigen Tunnelblick und bemerkte kaum noch, was rechts und links von ihr geschah.
Kendall hatte sie fest im Rettungsgriff. Der Tauchlehrer signalisierte Melanie, dass sie eigenständig auftauchen sollte. Ganz allmählich wurde Emily wieder etwas ruhiger. Sie konnte nun erkennen, dass Kendall sie an die Wasseroberfläche schaffte. Dabei achtete er darauf, nicht zu schnell aufzutauchen und über mehrere Auftauchstufen zu gehen. Immerhin waren sie in über dreißig Metern Tiefe gewesen.
Emily fühlte sich so schwindlig, dass sie gewiss umgefallen wäre, wenn sie gestanden hätte. Trotzdem war sie erleichtert, als ihr Kopf aus dem Wasser kam. Emily riss sich nun abermals den Sauerstoffschlauch aus dem Mund und atmete gierig die salzige Meeresluft ein. Der metallische Geschmack ihrer Atemluft war ebenso verschwunden wie die entsetzliche Panik, die allmählich einer leichten Beklemmung wich. Emily konnte nun wieder klar denken. Daher wusste sie jetzt auch, was ihr geschehen war.
„Was ist passiert?“, rief Andy. Emily konnte die Besorgnis in seiner Stimme deutlich hören. Auch die anderen Leute an Bord der Fortuna sprangen auf, als sie sahen, dass mit Emily etwas nicht stimmte.
„Emily hat wahrscheinlich einen Tiefenrausch“, sagte Kendall. „Helft mir, sie aufs Boot zu schaffen.“
Mehrere Hände griffen zu, und wenig später lag Emily auf den harten Planken. Andy kauerte neben ihr, befreite sie von der Taucherbrille und strich ihr vorsichtig mit zwei Fingern über die Wange. Die Sauerstoffflasche war ihr schon von Kendall abgenommen worden, als man sie aus dem Wasser gezogen hatte.
„Tiefenrausch?“, fragte Melanie aufgeregt, während sie an Bord kletterte. „Was ist das denn?“
„So nennt man eine Stickstoffvergiftung, die in größerer Tiefe auftreten kann“, erklärte der Tauchlehrer. „Der Taucher wird nervös und ängstlich, bekommt Halluzinationen oder Sehstörungen. Aber eigentlich waren wir nicht tief genug für diese Taucherkrankheit, und Emilys Gesundheitszeugnis war in Ordnung, genau wie bei euch anderen Schülern. Ich verstehe das nicht. Emily, hast du vielleicht Tabletten eingenommen? Du musst es mir bitte sagen, denn so etwas darf nicht noch mal passieren.“
Emily hätte nicht sagen können, wer besorgter um sie war – Andy oder Kendall. Natürlich war es ihr lieber, dass ihr neuer Freund sich ihretwegen Gedanken machte. Aber sie fand es auch toll, wie sicher und souverän Kendall sie aus der Tiefe gerettet hatte. Erst jetzt begriff sie, dass sie beinahe ertrunken wäre. Und das war ein richtig mieses Gefühl.
„Ich habe keine Tabletten
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