Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
Middendorf hat parallel zu einigen anderen Körpertherapeuten in jahrelanger Erfahrungsarbeit die sogenannte Vokalraumarbeit gefunden, deren Grundlagen auf klaren Gesetzmäßigkeiten beruhen. Jeder Vokal, ob laut getönt oder schweigend in sich aufgenommen, nimmt im Körper einen ganz bestimmten Raum ein. Das „O“ einen anderen als das „E“, das „U“ einen anderen als das „I“, usw.
Ich möchte Sie in eine unserer zahlreichen Vokalraumstunden während der Ausbildungszeit in Berlin am Institut von Ilse Middendorf führen. Wir sitzen in der Runde auf Hockern. Frau Middendorf fordert uns zunächst auf, uns zu dehnen. Dies bewirkt bereits eine Lösung und die Möglichkeit, einen Zugang zu finden in die eigene Welt unseres Körpers. Jeder sucht die ihm angemessene Haltung und nimmt sie ein. Der Atem kommt und geht von selbst, bewegt uns; nicht wir atmen, sondern der Atem geschieht in uns. Wir nehmen schweigend ein „O“ auf im Einatem, lassen es in uns hineinfallen, während wir es vom Ausatem wieder hinaustragen lassen, auch dieses vorläufig noch schweigend. Allmählich spüre ich, wie der Atem ruhiger und tiefer wird, und nach einer Weile stelle ich fest, daß er sich immer stärker im mittleren Raum einfindet und sich dort konzentriert. Wir lösen uns aus der inneren Sammlung und tauschen unsere Erfahrungen aus:
Fast jeder von uns konnte den mittleren Atemraum besonders ausgeprägt spüren. Im nächsten Schritt tönten wir das „O“ laut im Ausatem. Der zugelassene Einatem füllt den Atemraum, und von dort trägt der Ausatem das lautgetönte „O“ hinaus. Zunächst sind die Töne noch etwas zaghaft, man ist gehemmt, findet seinen eigenen Ton nicht schön genug, achtet noch zu sehr auf die Töne der anderen und versucht, sich hinter diesen zu verstecken, um nicht allein herausgehört zu werden.
Auch die Stimme ist etwas sehr Individuelles, Sensibles, in deren Ausdruck man viel von sich selber zeigt. Darum sind Hemmungen und verlegenes Kichern fast immer die Begleiterscheinungen der ersten Vokalraumstunden. Doch es ist auch die Stimme, vereint mit dem Atem, die diese Hemmungen wieder löst und befreit – und nachfolgende Erfahrungen sind um so schöner und wertvoller.
Je mehr ich mich in der Mitte wirklich einfinde und mich auf meinen Ausatem verlasse, um so freier und vor allem auch voller wird der Ton. Man beginnt zu hören, auch bei den anderen, daß der Ton nicht mehr nur aus der Kehle hervorgebracht wird, sondern der Körper immer mehr mitschwingt, beteiligt und ausgefüllt ist, während der Atem trägt. Es entstehen immer klangvollere Töne im Raum, der ganze Raum ist angefüllt und klingt, zum Teil bereits in verschiedenen Tonhöhen und Harmonien, die sich in späteren Stunden noch vervollkommnen. Während des Nachspürens, das jeder Übung folgt, um die volle Wirkung auch bewußt wahrnehmen zu können, erlebe ich meine Körpermitte prickelnd warm und sehr belebt, mein Atem ist kräftiger und voller geworden. Das „O“ wirkt in erster Linie zentrierend.
Anschließend erarbeiten wir uns in ähnlicher Weise das „E“. Es nimmt seinen Raum in etwa derselben Höhe wie das „O“ ein, jedoch schmaler und horizontal, seine Wirkung geht über die Flanken hinaus. Während des Tönens lassen wir die Arme locker hängen, und allmählich beginnt der Ton, je voller er wird, die Arme ein wenig vom Körper zu lösen und hinauszutragen. Ein herrliches Gefühl der Weite entsteht. Besonders die Schlichtheit dieser kleinen körperlichen Ereignisse war es, die mich angesprochen hat und heute oft noch überwältigt.
In der beschriebenen Übungsstunde lernten wir auch noch das „U“ und das „I“ kennen. Das „U“ liegt tief im Becken und nimmt dort seinen Raum ein, es hat eher eine beruhigende Wirkung. Ich arbeite oft mit meinen Patienten in der Weise, daß sie dabei ein wenig hinter die Sitzknochen rollen, dadurch fällt der Einatem leicht ins Becken ein, während des Tönens richtet sich die Wirbelsäule langsam von unten nach oben auf, bis man wieder genau auf den Sitzknochen sitzt. In der Aufrichtungsphase spürt man sehr gut die Atemsäule, die von unten nach oben aufsteigt und den Ton trägt.
Das „I“ nimmt den gesamten Kopfraum und Schultergürtelbereich ein und geht in seiner Wirkung noch darüber hinaus nach oben, man sollte es nicht zu lange tönen, da die I-Schwingung sehr intensiv ist. Kurz geübt, bewirkt sie Helligkeit im Kopf und regt die Gehirnnerven und Rückenmarksnerven
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