Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
zur Verfügung steht.
Sie schieben nun einen Fuß um eine halbe Fußlänge nach vorn, ohne die Sohle vom Boden zu lösen und lassen Ihr Gewicht ganz auf diesem vorgezogenen Fuß, das Knie gibt dabei wieder nach. Durch den Druck auf die Fußsohle erfolgt der Einatem. Darauf schieben Sie den hinteren Fuß so weit nach vorne, daß er dem anderen um eine halbe Fußlänge voraus ist. Während dieses Vorschiebens atmen Sie aus und richten sich dabei im Knie wieder auf. Die Aufrichtung läuft durch den ganzen Körper. Indem Sie das Gewicht wieder auf den vorderen Fuß verlagern, kommt der Einatem. Und so geht es immer weiter. Zunächst haben Sie zu tun mit der Bewegung und dem Gleichgewicht; dabei auf keinen Fall krampfhaft an den Atem denken. Allmählich spielt sich die Bewegung ein, je weniger Sie denken, um so eher. Sobald der Atem dann seinen gemeinsamen Rhythmus findet mit der Bewegung, trägt er die Bewegung von innen her – und Sie kommen ins Gleichgewicht. Diese Übung ist länger auszuführen als andere, denn es braucht eine Weile, bis sich die Bewegung verselbständigt hat und die Anspannungen sich lösen. Doch dann kann sich ihre Wirkung bis ins Innerste ausbreiten und ein Gefühl tiefer Ausgeglichenheit hinterlassen.
Gleichgewichtsorgan, Atemzentrum und Kleinhirn wirken hier in fein abgestimmter Weise zusammen.
Atem und Stimme
Über die Stimme erhalten wir eine ganz besondere Verbindung zum Atem. Es ist der Ausatem, der den Ton, das Wort hinausträgt zum anderen, in den Raum, in die Welt, während der zugelassene Einatem Voraussetzung bietet für Klarheit und Fülle des Tons. Ohne sich damit näher beschäftigt zu haben, meinen viele, die Stimme sei einzig und allein Angelegenheit der Stimmorgane, also des Kehlkopfes und der Stimmbänder. Diese nehmen zwar eine wichtige Funktion ein, sind jedoch ebenso eingefügt in das ganzheitliche Geschehen wie andere mitwirkende Anteile, zum Beispiel das Zwerchfell oder die Atemräume. In der Stimme, ähnlich wie auch in der Bewegung, findet der Atem seine Ausdrucksmöglichkeit und Gestaltung. Grundlage für eine freie, wohlklingende und natürliche Stimme ist ein bewohnter, durchlässiger Körper, in welchem Atemräume und Atemrhythmus erlebt werden können und ganz zur Verfügung stehen. Wie bei einem Instrument nimmt der menschliche Körper für die Stimme den Stellenwert eines großen Klangkörpers ein.
Noch bevor ich Erfahrungen mit meiner eigenen Stimme machen konnte, lernte ich in Berlin bei einem Vortrag Hugo Kükelhaus kennen, einen Plastiker, Graphiker und Maler, auch tätig als Berater bei Klinik- und Schulbauten. Er hatte eine faszinierende und vor allem ganz einfache Art, anderen Menschen Naturgesetze in klaren, anschaulichen Beispielen nahezubringen. Seine Vorträge bestanden ausschließlich aus solchen praktischen Beispielen. In dem erwähnten Vortrag wies er einige von den Zuhörern an, sich ausgestreckt auf dazu bereitstehende Tische zu legen. Er hielt einen großen tibetanischen Gong in der Hand und stellte sich damit an das Fußende der betreffenden Person. Die Gongschläge waren ein einziges großes Klangerlebnis, das kaum mehr etwas mit den Ohren zu tun hatte, sondern sich im ganzen Körper ausbreitete und als Schwingung fühlbar wurde.
Ähnlich überrascht und überwältigt war ich später während meiner Ausbildung bei Ilse Middendorf von den Auswirkungen meiner eigenen Stimme in meinem Körper und dem vollen, schwingenden Klang, der sich im Raum ausbreitete, verstärkt durch die anderen Gruppenmitglieder, und ebenfalls fühlbar wurde. Diese Schwingung des Tons, die wir selbst durch den Körper hindurchlassen müssen, hat durch ihre Feinheit etwas Heilsames und Reinigendes und wirkt sich in dieser Weise auf die verschiedenen Organe des gesamten Organismus aus. Und nicht nur das. Sicherlich ist die Verwandtschaft der beiden Wörter „Stimme“ und „Stimmung“ nicht zufällig. Jeder, der gerne singt, weiß aus Erfahrung, welche kleinen „Wunder“, das Singen vollbringen kann und wie froh und gelöst man hinterher ist. Auch diese Wirkung ist letzten Endes eine Folge von Bewegung, denn Tonschwingung ist ja Bewegung – und wenn wir uns hineinstellen in diese Bewegung, sie zulassen, kann es gar nicht anders sein, als daß sie froh macht und alles Stockende und Stauende vertreibt. Ganz abgesehen davon, daß die stimmliche Betätigung sehr die Zwerchfellbewegung anregt, also die Bewegung innerhalb des sogenannten Gemütsbereiches.
Ilse
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