Attentage
Runde.
Bevor sie weiter erklären kann, kommt ihr Leconte zuvor: „Das Wachsfigurenkabinett! Unser Poet hat die Nachricht nun auf unser intellektuelles Niveau gebracht, nachdem er beim ersten Mal nicht verstanden wurde. Zumindest auf das Niveau der meisten hier.“
Purront ist wegen seines unhöflichen Chefs so verlegen, wie es die anderen wegen dieser öffentlichen verbalen Ohrfeige sein sollten. Doch niemand scheint sich direkt angesprochen zu fühlen. Auch der Italiener reagiert keineswegs heißblütig, sondern bleibt gelassen, wenn er auch nicht völlig überzeugt ist.
„Beide Veranstaltungen finden in Räumlichkeiten mit Eintrittskontrollen statt. Wenn die aktuelle Nachricht richtig gedeutet wurde, können wir die Attentate mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindern“, sagt Heather und ihre Stimme klingt heiser vor Aufregung. „Dank dem Poeten!“ Sie blickt dabei länger zu Leconte, der ihren Informanten als Erster so genannt hat, als es bei einem solchen Meeting angebracht wäre.
„Ja“, sagt Leconte, „und auch alle weiteren, die vom Jemen aus geplant werden, können wir ab jetzt verhindern. Solange wir das so geschickt machen, dass niemand etwas vom Verrat ahnt, und es wie Zufall und gute Polizeiarbeit aussehen lassen.“
Diesmal ist Purront ausnahmsweise stolz auf seinen Chef, weil er die Dinge präzise und schnörkellos auf den Punkt bringt.
Plötzlich reden fast alle gleichzeitig. Die Stimmung ist gelöst und die Frustration über die vergebliche Mühe der letzten Jahre scheint wie ausgelöscht. Hoffnung und Begeisterung sind beinahe körperlich spürbar. Gastgeber Erik muss laut werden, um sich Gehör zu verschaffen. „Wir müssen als ersten Schritt für das,Projekt Poet‘ den neuen Leiter wählen“, ruft er. Purront registriert, dass Erik und auch die meisten anderen dabei Leconte ansehen, und weiß schlagartig, dass Nicole die nächsten Monate noch viele Wochenenden ohne ihn verbringen wird müssen.
SAMSTAG, 10. MÄRZ, 22.40 UHR | JEMEN, WÜSTENCAMP
Der Wüstenwind treibt Abdul den Rauch des Lagerfeuers in die Augen und sie beginnen zu tränen. Er hofft, dass ihm dies von Said al-Mutallab, dessen engstem Vertrauten Umar und von Fayez nicht als Weichheit ausgelegt wird. Fayez ist der Neffe von Sheik Ali al-Houthi und hat ihm am Morgen die Nachricht überbracht, dass sie ihm am Abend abseits des Lagers etwas Wichtiges mitteilen werden. Auch wenn er es höflich als Einladung formuliert hat, weiß Abdul, dass sein Erscheinen damit befohlen wurde. Als am Abend ein zusätzliches kleineres Lagerfeuer außer Hörweite errichtet wird, ist auch seinen Mitbrüdern im Camp klar, dass Abdul heute sein Auftrag anvertraut wird. Erst vor einigen Wochen haben sich Ahmed und Hassan nach solch einem Treffen für immer verabschiedet.
Für Abdul hat sich alles schon seit einigen Tagen abgezeichnet. Said holte ihn immer wieder zu längeren Gesprächen in sein Zelt. Wie zufällig kamen sie dabei regelmäßig zur Frage, ob Abdul denn bereit wäre – wenn es notwendig sei –, Allah sein Leben im Jihad als Mujahid zu opfern. Gestern betonte Said besonders, dass sich die Umma – die Gemeinschaft der wahren Gläubigen – nach einem heldenhaften Tod lebenslang um die Familie eines Märtyrers kümmert.
Abdul muss an seine beiden jüngeren Schwestern und seine Mutter in ihrer schäbigen Unterkunft nahe dem Hafen von Aden denken. Seit kurzem zahlt Abduls Onkel die Miete. Bei seinen seltenen Besuchen jammert er regelmäßig übersein ungerechtes Schicksal. Von dem kläglichen Einkommen seiner Schusterwerkstatt müsse er nun nicht nur seine, sondern auch die Familie seines jüngeren Bruders Walid unterstützen. Im selben Atemzug verflucht er die amerikanischen Soldaten, die Walid erschossen haben.
Abduls Vater wartete täglich im Hafen auf die Ankunft großer Containerschiffe, um für einen Tag Arbeit beim Ausladen zu ergattern. Die Auswahl wurde von den Schiffsoffizieren nicht nach Körperstatur oder Erfahrung getroffen, sondern einfach danach, wer gerade rechtzeitig vor Ort war, falls zusätzliche Hilfe gebraucht wurde. Die jemenitischen Tagelöhner durften aber nicht vor dem Anlegen eines Schiffs am Pier sein, sonst wurden sie von den angestellten Hafenarbeitern vertrieben. So saßen sie in Hafennähe und kauten stundenlang Qatblätter, die sie sich wie Hamster in die Backen schoben. Sufis, die islamischen Mystiker, hatten die grüne Droge unters Volk gebracht. Das Qatkauen der Männer und der Verkauf der
Weitere Kostenlose Bücher