Attentage
Qatzweige auf dem Markt gehörten bald zum Alltagsbild. Die Droge machte zuerst geschwätzig, dann aber flaute die euphorisierende Wirkung ab und wich einer matten Schläfrigkeit.
Walid hatte erst im letzten Moment das Ankommen eines Containerschiffs erspäht und war versehentlich auch noch zum falschen Pier gelaufen. Da er das Schiff noch vor dem Löschen der Ladung erreichen wollte, lief er nicht zurück zum Haupteingang, sondern begann über einen hohen Metallzaun zu klettern, der ihn von seiner Arbeitsmöglichkeit trennte. Schon vier Tage war er erfolglos geblieben und ohne Lebensmittel heimgekommen.
Es wird für immer ungeklärt bleiben, ob er die Rufe der amerikanischen Soldaten hörte, die ihn angeblich aufforderten, sofort vom Zaun zu steigen. Drei Wochen zuvor hattenAttentäter zwei Schlauchboote mit Sprengstoff gefüllt und ein amerikanisches Kriegsschiff angegriffen. Es war ihnen gelungen, 17 Menschen zu töten. Abduls Vater ahnte nicht, dass darum diesmal kein übliches Containerschiff ankam, sondern ein amerikanischer Frachter, der das nötige Material für die Instandsetzung der schwer beschädigten „USS Cole“ brachte. Die amerikanischen Soldaten am Hafen waren dementsprechend nervös und einige Zeugen behaupteten, dass ihre Warnschreie erst nach den tödlichen Schüssen zu hören waren. Abduls Onkel erzählte allen nach dem Begräbnis – ob man es hören wollte oder nicht –, dass die Leiche seines Bruders neun Einschussstellen aufgewiesen hatte. Sieben davon hätten sich in seinem Rücken befunden.
Die ersten Tage nach dem Tod seines Vaters waren für Abdul wie ein nicht enden wollender Albtraum. Seine Mutter saß apathisch am Küchentisch und blickte stundenlang durch das Fenster auf den Eingang zum Hinterhof, als ob sie erwartete, dass Walid jeden Augenblick nach Hause kommen würde. Seine Schwestern weinten sich in den Schlaf. Er selbst funktionierte wie mechanisch und antwortete freundlich und emotionslos, wenn er nach dem Hergang der Ereignisse befragt wurde.
Die Leiche seines Vaters wurde von den Behörden sechs Tage nicht freigegeben. Als man ihnen den Leichnam dann unangekündigt in einem Kastenwagen brachte, musste alles sehr schnell gehen. Nur wenige Verwandte schafften es, rechtzeitig aus den umliegenden Dörfern zur Beerdigung anzureisen. Die absolut notwendigen rituellen Waschungen und Gebete wurden noch verrichtet, bevor der Leichnam in Tücher gewickelt und mit dem Kopf Richtung Mekka seitlich in die Erde gelegt wurde.
Das Begräbnis selbst erlebte Abdul wie in einem dichten Nebel. Er löste sich erst, als auf dem Heimweg in einer Nebenstraße ein Auto mit zwei westlich aussehenden Insassen an ihm vorbeifuhr. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, hob er einen Stein auf und warf ihn. Er zielte auf die Windschutzscheibe und verfehlte den Wagen nur um Haaresbreite. Der erschrockene, aber gleichzeitig zornige Blick des Fahrers erinnerte Abdul daran, dass er trotz seiner Jugend nach dem Tod seines Vaters der Ernährer der Familie war. Er durfte nicht riskieren, eingesperrt zu werden, denn seine Schwestern und seine Mutter waren nicht nur von der Unterstützung seines Onkels, sondern auch von seiner abhängig. Plötzlich bekam Abdul panische Angst, dass er erkannt worden war. Er hatte vor einigen Monaten einen Job als Aushilfskellner in einem kleinen Imbisslokal in der Nähe des Mövenpick-Hotels gefunden und Gäste spazierten regelmäßig daran vorbei. Allerdings würdigten sie einen jemenitischen Kellnerburschen normalerweise keines Blickes. Abdul unterschied sich auch äußerlich nicht von den anderen schlaksigen Jungen mit kurzen schwarzen Haaren, die in den kleinen Restaurants die Tische abräumten.
Sheik Ali al-Houthi hatte ihn am folgenden Tag nach dem Besuch des Freitagsgebets direkt vor dem Eingang der großen Moschee angesprochen. Er hatte Abdul sein tiefes Beileid zum Tod seines Vaters ausgesprochen und ihn für drei Monate zur Ablenkung in sein Wüstencamp eingeladen. Abdul hatte schon von diesem Lager gehört, aber niemand schien Genaueres zu wissen oder darüber reden zu wollen. Er erklärte Sheik Ali al-Houthi, nachdem er ehrerbietig dessen rechte Hand und rechtes Knie geküsst hatte, höflich, dass er nun nach dem Tod seines Vaters für seine Familie sorgenmüsse. Schon am nächsten Freitag drückte ihm der Sheik einen dicken Briefumschlag in die Hand. Erst zu Hause öffnete ihn Abdul. Er enthielt mehr Geld, als Abdul in einem Jahr verdienen konnte. Ali
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