Attentage
immer intensiver. Es geht nun vor allem um die kriegerischen Episoden im Leben Mohammeds und um jene Suren, die zum heiligen Krieg aufrufen. Abdul liest zwar noch manchmal seine poetischen Lieblingssuren aus dem Koran vor der Zeit der Mekka-Feldzüge, aber er spürt die Kraft, die von Sure 9 ausgeht, die mehrmals zum Kampf aufruft. „Oh ihr, die ihr glaubet! Kämpft gegen die Ungläubigen in eurer Nähe und lasst sie eure Härte spüren. Und wisset, dass Allah mit den Gottesfürchtigen ist.“
Jeden ersten Freitag im Monat können alle Said einen Brief an ihre Familien bringen. Jene, die nicht schreiben können, diktieren ihn. Es gehört zu den Regeln, dass der Brief nicht verschlossen ist und darin weder das Lager noch ihre Aktivitäten erwähnt werden. Fayez und Umar – neben Said ihre Lehrer – lesen jeden Brief gründlich, bevor alle zwei Tage später von Zaid, dem schweigsamen Fahrer, abgeholt werden. Aus den Antworten seiner Mutter weiß Abdul, dass regelmäßig reichlich Geld für die Familie in das Kuvert beigelegt wird.
Jede Woche bringt Ziad auch Proviant und Wasser. Außer Abdul und den drei Ausbildern sind momentan noch 15 junge Männer im Camp. Abdul wundert sich, dass laut Erzählungen noch nie jemand das Lager verlassen hat, außer um einen Auftrag auszuführen, von dem er, wie alle wussten, nicht mehr wiederkehren würde. Das macht ihm Angst, aber er lernt diesen Gedanken schnell zu verdrängen, indem er sich in den Koran vertieft. Schon nach dem Lesen einiger Suren ist er gegen weitere derartige Anfechtungen gewappnet.
Mit Fayez versteht sich Abdul besonders gut, obwohl dieser selten den Koran rezitiert. Dafür kennt der Neffe Saids viele Gedichte von Mohammed Mahmoud al-Zubairi, einem jemenitischen Dichter und Revolutionär, der gegen die Vorherrschaft der Imame und der Saudis im Land kämpfte und ermordet wurde. Da er kein Märtyrer für die Sache Allahs war, hat Abdul gemischte Gefühle, als ihm Fayez bei einem Spaziergang ums Lager ein Gedicht vorträgt. „Das steht nicht im Koran: Wir sollen keine Meinung haben und keine Würde und keine Freiheit! Den Mut hat Allah uns in die Herzen gekerbt und uns die stolze Nase eines Adlers gegeben. Gottes Geist ist eingeflossen in unsere Seele und mit ihm unserFühlen als Nation. Wir als Volk: Vom Propheten kommt unser Beginn und von Himjar unser edles Blut, Ruhm ist die Füllung unserer Adern und Streben nach dem Höchsten und nach der Herrschaft. Unsere Erde: Sie verflucht die Tyrannen, die durch die Zwietracht der Sekten uns beherrschen.“
Die Hochebene mit ihren Terrassen und dem 3.000 Meter hohen Gipfel des Djebel Sabir ist in der Ferne besonders klar zu sehen. Abdul wird durch die wenigen Zeilen seltsam berührt, als ob eine Saite in seinem Inneren angeschlagen wird, und er verspürt Sehnsucht danach, die ganze Melodie zu hören. Fayez lächelt und sieht sanft aus. Er hat weiche Gesichtszüge und ein etwas rundliches Gesicht. Der Wind spielt mit seinen für einen Mann etwas zu langen Locken. Fayez scheint viele Dinge nicht so ernst zu nehmen wie andere.
Abdul ahnt, dass es vor allem die Verwandtschaft zu Sheik Ali al-Houthi ist, die Fayez in diese hohe Stellung unter den Brüdern gebracht hat.
Vor kurzem hat ihm Umar erzählt, dass der Sheik ein Freund von Anwar al-Garadi, dem Vizechef der al-Qaida im Jemen, ist und auch mehrmals persönlich mit dem großen Führer vor dessen Ermordung durch die westlichen Teufel gesprochen hat. Abdul musste schwören, es niemandem zu erzählen, und fühlte sich geehrt, dass ihm dieses Geheimnis anvertraut worden war.
Heute Abend sitzt Abdul nun mit den drei wichtigen Männern, fernab von den Zelten, am Lagerfeuer. Said ergreift das Wort: „Wir haben dich die letzten drei Monate genau beobachtet und als einen Muslim ohne Fehl und Tadel erkannt.“ Abdul ist gerührt. Er spürt Tränen in den Augen und ist nun froh über den Rauch. Er nickt dankbar. Ehrerbietig achtet erdarauf, ganz gerade zu sitzen, so wie es der Würde dieses Moments entspricht.
Said scheint ihn genau zu beobachten. Seine Augen liegen tief in ihren Höhlen und sind durch lange, seidige Wimpern verdeckt. Das Feuer wirft seinen Schein auf Saids asketisches Gesicht mit den eingefallenen Wangen. Das flackernde Rot lässt es geheimnisvoll erscheinen. Das gibt ihm ein beinahe mystisches Aussehen. Den Anblick prägt sich Abdul ein und auch die nächsten Minuten werden in seiner Erinnerung für immer eingebrannt sein.
„Wir senden dich zu
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