Attentage
überbringen zu müssen. Die Beamten haben den jungen Mann wieder aufgerichtet und man sieht, wie ihm aus dem linken Nasenloch der Rotz über Mund und Kinn läuft. Heather registriert, dass er über seinem rechten Auge ein leicht blutendes Cut hat. Die Verletzung muss beim Aufprall auf dem Boden passiert sein.
Heather ist zum Heulen zumute, aber sie weiß, dass sie sich zusammenreißen muss.
„Bringt ihn in den Verhörraum, bis die Aktion beendet ist, lasst sein Hotelzimmer durchsuchen und überprüft seine Identität“, ordnet sie energisch an.
Als sie zum Monitor und zu Purront zurückkehrt, kann dieser an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass es blinder Alarm war. „Wir warten noch zehn Minuten, bis der Raum gereinigt ist, dann öffnen wir wieder“, sagt sie.
„Das ist auch höchste Zeit“, antwortet Purront und deutet auf den Monitor, auf dem man beobachten kann, wie einige Wartende bereits ärgerlich Einlass verlangen.
DONNERSTAG, 5. APRIL, 14.30 UHR | LONDON, WACHSFIGURENKABINETT
Durch seinen Besuch vor einigen Tagen weiß Hani, dass er mit einer Stunde Wartezeit vor dem Eingang rechnen muss. Doch heute bewegt sich die Warteschlange noch schleppender. In der letzten halben Stunde haben sie sich nur etwas mehr als 100 Meter dem Eingang genähert. Vor ihm springt ein kleines Mädchen ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und ist ihm dabei mehrmals auf die schwarzen Schuhe getreten.
Obwohl die Kleine es bemerkt, macht sie keine Anstalten, sich zu entschuldigen. Das Mädchen trägt einen kurzen roten Rock und ein Shirt, auf dem eine leicht bekleidete Frau mit grellrosa Lippen abgebildet ist, die in ein phallusartiges Mikrophon singt. Hani weiß, dass es das Foto eines amerikanischen Popstars ist, der ihm schon öfters beim Zappen durch die Fernsehkanäle aufgefallen ist. Offenbar ist das höchstens zehnjährige Girl ein Fan, denn es trägt ähnlich wie sein Idol einen schwarzen, stufig geschnittenen Pony, wirr in die Stirn gekämmt, und die Lippen sind pink geschminkt. Die Ungläubigen lassen schon ihre Kinder den Weg des Bösen gehen. Die Eltern des Mädchens reden in einer Sprache, die Hani als Spanisch deutet, und ertragen geduldig die ständigen quengeligen Fragen ihrer Tochter, die sichtlich vom Warten genervt ist. Der Vater trägt ein massives Goldkreuz an einer dicken Goldkette. Welch ein zu verachtender Glaube an einen Gott, der seinen Sohn für die Sünden der Welt sterben ließ.
Hani hat sich seit seinem Besuch im Wachsfigurenkabinett die Frage gestellt, ob es nicht falsch ist, wenn auch Kinder bei dem Attentat sterben. Er hat das nicht so geplant, aber er kann auch keine Rücksicht darauf nehmen, wenn sich Kinder in der Nähe befinden, wenn er die Bombe zünden muss. Doch dann spürt er wieder den starken Glauben in sich, dass Allah jedes Detail kennt und im Voraus plant. Vielleicht wird es einem Kind durch diesen Tod erspart, tief in Sünde verstrickt zu werden und dadurch schweres Gericht auf sich zu laden. „Allah weiß, aber ihr wisst nicht.“
Bei der Herfahrt in der U-Bahn hat er wieder eines dieser jungen Paare gesehen, die miteinander ungeniert intime Zärtlichkeiten austauschen. Der Bursche hatte die Hand unter das Shirt seiner Eroberung geschoben und kreisend ihre nackte Haut gestreichelt. Hani hatte den Blick abgewandt. In seiner Heimat würden sie solche Schamlosigkeit in der Öffentlichkeit niemals wagen. Aber im dekadenten Westen war es wohl nur mehr eine Frage der Zeit, bis es solche Pärchen vor aller Augen miteinander treiben würden. Ein sehr britisch wirkender weißhaariger Herr hatte zwar missbilligend die Augenbrauen hochgezogen. Aber das war schon alles an empörter Reaktion gewesen.
Doch Hani wird heute eine klare Sprache sprechen und die Gottlosen aus ihren Verstecken jagen. Die Sure 8/57 kommt ihm in den Sinn. „Siehe, schlimmer als das Vieh sind bei Allah die Ungläubigen, die nicht glauben.“
Die Frühlingssonne ist kräftig und Hani merkt, dass er durstig ist. Das hat sicherlich auch mit dem enormen inneren Druck zu tun. Jede Muskelfaser ist wie zum Zerreißen gespannt. Er versucht sich zu lockern und schüttelt dabei seineHände seitwärts leicht aus. Dabei fällt ihm auf, dass ihn der blonde Mann, der hinter ihm steht, beobachtet.
Irgendetwas ist anders als beim letzten Besuch, denkt Hani, irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte. Eine knappe Stunde trippelt er nun schon in dieser Warteschlange schrittweise in Richtung Eingang. Eine afrikanische
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