Attentage
können wir noch etwas schlafen.“ Sie übernimmt die Leitung wie einen Mantel, der ihr gehört und den sie sich an der Garderobe wieder abholt. Als sie aus dem Gebäude zum wartenden Bus auf dem Parkplatz voranmarschiert, geht sie an Leconte vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
DONNERSTAG, 5. APRIL, 13 UHR | LONDON, HANIS WOHNUNG
Hani merkt schon bei Satams Eintreten, dass dieser außerordentlich nervös ist. Doch da es Zeit für das Mittagsgebet ist, kann er ihn nicht nach dem Grund fragen. Gemeinsam knien sie nieder und verbeugen sich in Richtung Mekka. Sie beenden das Gebet mit dem Friedensgruß „Friede sei mit dir und die Gnade Gottes“, der mit dem Kopf einmal nach links und dann nach rechts gesprochen wird. Hani spricht die Worte heute besonders feierlich und bewusst.
Der Raum ist bis auf einige Kartons leer. Seinen Fernseher hat Hani vor einigen Tagen an einen Arbeitskollegen verkauft. Er will sich nicht die letzten Tage vor seinem heiligen Märtyrertod noch mit unreinen Bildern beflecken. Das Geld vom Verkauf hat er in ein Kuvert gegeben und seinem Bruder im Jemen gesandt. Er hat ihm eine Karte mit einem Vers aus den Gebeten für die Umrundung der heiligen Kaaba mit dem schwarzen Stein in Mekka beigelegt. „Ich bin dein Diener und der Sohn deines Dieners. So handelt einer, der Zuflucht sucht bei dir vor dem Feuer. O Allah, bringe uns dahin, dass wir den Glauben lieben.“
Sonst hat er nichts dazugeschrieben. Wenn sein Bruder Majid den Brief erhält, hat er seine Heldentat schon vollbracht und es wird keinerlei Erklärung mehr nötig sein. Ob das Geld ankommt, ist allerdings unsicher, er hat gehört, dass Postbeamte im Jemen oft Auslandsbriefe öffnen und entdecktes Bargeld stehlen. Aber das ist Hani heute gleichgültig.
Wenn es Allahs Wille ist, würde Majid das Geld erhalten. Inshallah. Einen Dieb wird in der Ewigkeit schreckliche Strafe treffen. In Sure 5 wird befohlen, ihm die rechte Hand abzuhacken, und wenn er danach stiehlt, auch den linken Fuß. Wie viel schlimmere Strafe wird jene ereilen, die noch nicht zu Lebzeiten für ihre Sünden büßen konnten! Noch dazu, wenn es das Geld eines Mujahids war!
„Du wirkst unruhig. Ist etwas geschehen?“, fragt Hani seinen Gast, als er den Cay in grünen Tassen auf den Tisch in der Küche stellt und sich auf einen der billigen roten Klappsessel zu ihm setzt.
Er trägt eine schwarze Hose und ein hellblaues Kurzarmhemd. Die Kombination von rotem Sessel, grüner Tasse und blauem Hemd erzeugt ein unpassend fröhliches, buntes Bild.
Satam sieht ihn durchdringend an. „Du hast also noch keine Nachrichten gehört?“ Hani schüttelt den Kopf und deutet vage in Richtung des leeren Platzes, wo zuvor der Fernseher thronte.
„Einer unserer Brüder hat in Wien versucht, eine Bombe zu zünden, und wurde dabei getötet, ohne dass sonst jemand zu Schaden gekommen ist.“ Man merkt Satam an, wie widerwillig er diese Nachricht übermittelt. „Zuerst diese Panne in Paris, dann wird in Amsterdam das Attentat beinahe verhindert und nun diese Niederlage in Wien! Diese Teufel sind mit dem Satan im Bunde.“
Hani nickt. In Sure 43 steht, dass jedem Ungläubigen ein Teufel, ein Sayatin, zugeteilt ist, um ihn zum Bösen zu verführen.
„Diesmal wird alles klappen“, sagt Hani beschwörend und blickt Satam direkt in die Augen.
Dieser hat sich wieder gefasst und sagt im Befehlston: „Du bist schon beim Eingang von Menschen umgeben. Wenn es Probleme gibt, musst du die Bombe sofort zünden.“
„Ja“, sagt Hani einfach. Er ärgert sich etwas, dass Satam ihm Anweisungen gibt, wie er sein Leben zu opfern hat. Er ist doch kein hirnloser Soldat, der sich einfach mit anderen in die Luft sprengt, weil es sein Kommandant so befiehlt. Er ist ein Mujahid, der für diesen Dienst von Allah vorherbestimmt und auserwählt wurde. Diese heilige Mission ist dem Wissenden, dem Allsehenden schon von Anfang der Welt an bekannt. „So führt Allah in die Irre, wen er will, und leitet recht, wen er will.“ Diese kindischen Ängste und Ratschläge sind es, die verwirren und zu menschlichen Fehlern führen. Er wird die Bombe genau dort zünden, wohin Allah ihn führt.
Als ob Satam seine Gedanken erahnen könnte, erspäht er das Foto von Hani mit Barack Obama im Wachsfigurenkabinett, das auffällig neben einem türkisen Briefkuvert an einer Brotdose auf der Arbeitsplatte der billigen Küche lehnt.
„Was ist das?“, fragt er erstaunt, steht auf und nimmt Foto und Brief in die
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