Attentage
Mittags sind die Räumlichkeiten sicherlich so gut wie immer verwaist. Der Poet kennt dieses Hotel offensichtlich von einem früheren Besuch und ist mit den Gepflogenheiten vertraut.
Leconte merkt, wie seine Handflächen feucht werden. Er verflucht seine Torheit, ohne Waffe und kugelsichere Weste in diese Situation hineinzumarschieren. An der Bar wird er wie auf einem Servierteller sitzen. Der Poet braucht nur den Raum zu betreten und hat ihn als lebendige Zielscheibe. Es gibt zumindest nur einen Eingang, der gut eingesehen werden kann. Das bewaffnete Paar in der Lobby kann es nicht übersehen, wenn jemand den Raum betritt. Und beide können sicherlich problemlos durch die Glasscheiben feuern.
„Was darf ich Ihnen bringen?“
Der Graumelierte ist offenbar ab Mittag nicht nur für die Rezeption, sondern auch für den Service zuständig und will sich den Weg zur Aufnahme der Bestellung sparen.
„Kaffee und einen kleinen Cognac.“
Erst als er im Frühstücksraum an der Bar auf einem Hocker Platz nimmt, bemerkt Leconte, dass er nicht alleine ist. Er sieht eine grüne Sporttasche auf dem Boden stehen unddie Beine des Mannes, der zuvor am Computer gesessen ist. Die Bar hat an dieser Stelle einen kleinen Vorbau, der seinen Oberkörper verdeckt. Leconte ist klar, dass ihn die beiden in der Lobby unmöglich sehen können.
„Kommen Sie näher.“ Er spricht in einem leicht bittenden Singsang. Als sich Leconte zwei Barhocker näher setzt, kann er den Sprecher sehen. Die weichen Gesichtszüge und die langen schwarzen Locken lassen das rundliche Gesicht von Fayez beinahe kindlich erscheinen. Die sanfte Stimme lässt ihn zusätzlich verletztlich und harmlos wirken. Neben ihm liegt ein altmodisches Handy, das noch eine kleine Antenne hat.
„Ich war sechs Jahre im Gefängnis, weil ich der Muslimbruderschaft angehörte“, sagt er. Seine Stimme klingt nun brüchig. „Die al-Qaida hat dort eine Schreckensherrschaft ausgeübt. Sie hat sogar ihre eigenen Leute gefoltert und getötet, wenn ihr etwas nicht passte. Als Neffe von Ali al-Houthi wurde ich aber gut behandelt. Nach meiner Entlassung wollte ich nichts mehr mit Gewalt zu tun haben. Darum habe ich euch vor den Attentaten gewarnt.“
„Dafür sind wir sehr dankbar.“ Lecontes Handflächen sind schweißnass.
„Dankbar!“ Fayez spuckt das Wort höhnisch aus. „Ihr habt meinen Onkel auf dem Gewissen. Er war unschuldig.“
Leconte überlegt fieberhaft, was er antworten soll. „Er war nicht unschuldig, denn er ließ Menschen grundlos töten.“
„Ja“, sagt Fayez resignierend, „und ich bin mitschuldig an seinem Tod. Es war alles völlig unnötig und sinnlos. Und jetzt werden auch wir beide sterben.“
Während des letzten Satzes nimmt er sein Handy mit der Antenne und richtet es auf die Sporttasche neben sich.In einem Sekundenbruchteil versteht Leconte, dass er über Funk eine Bombe zünden will. Als Fayez die auslösende Taste drückt, stößt Leconte sich vom Hocker ab, um hinter die Bar zu hechten. Er spürt die Druckwelle der Detonation noch an seinen Füßen und schlägt sich den Ellbogen und den Hinterkopf an der Bar blutig. Als er benommen auf dem Boden liegt, rieseln Glasscherben aus den Regalen auf ihn. Es ist totenstill und durch den Raum zieht beißender grauer Rauch.
Leconte zieht sich vorsichtig an der Theke hoch. Er wirft zuerst einen Blick zum Platz, an dem Fayez saß und der nun mit blutigen Fleischstücken übersät ist. Die Glaswand zur Lobby ist zerbröselt und der Graumelierte sitzt benommen vor der Eingangstür. Ein kleines Tablett, eine Kaffeetasse und ein zerbrochener Cognacschwenker liegen neben ihm. Das Paar läuft auf Leconte zu. Als sie bei ihm angelangt sind, öffnen beide immer wieder den Mund wie zwei stumme Fische. Nach einigen Minuten begreift Leconte, dass sie ihm Fragen stellen, die er nicht hören kann. Er sieht Männer in schwarzen Schutzanzügen mit automatischen Waffen in die Lobby laufen und Lucien, der ebenfalls einen Helm und eine Schutzweste trägt. Er spürt Wärme an seinem Hinterkopf und greift in etwas Feuchtes. Als er seine blutverschmierte Hand betrachtet, beginnt sich der Raum um ihn zu drehen. Dann verliert er das Bewusstsein.
Beim Aufwachen kommen mit der langsamen Wiederkehr von Geräuschen höllische Kopfschmerzen. Als Leconte die Augen öffnet, starrt er in das gleißende Oberlicht im Krankenwagen. Sein Ellbogen ist einbandagiert und er fühlt, dass er auch um den Kopf einen dicken Verband
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