Attentage
trägt.
„Machen Sie bitte das Licht und das Folgetonhorn aus!“, sagt Leconte und der Klang seiner eigenen Stimme schmerzt ihn.
„Gut, sehr gut. Sie hören. Ich hatte schon befürchtet, dass Ihnen die Detonation das Trommelfell beschädigt hat. Eine Gehirnerschütterung kann ich Ihnen aber garantieren. Und eine Platzwunde haben Sie auch. Ach ja, und der Ellbogen ist etwas lädiert. Aber insgesamt unglaubliches Glück!“
Leconte kann die Fröhlichkeit des Notarztes nicht nachvollziehen. Zumindest wird das Licht ausgeknipst und das Folgetonhorn verstummt mit einem letzten Quieken. „Wir werden Ihren Kollegen sagen, dass Sie erst morgen Nachmittag besucht werden können.“
Leconte muss trotz seiner furchtbaren Kopfschmerzen noch eine Frage stellen. „Ist der Attentäter tot?“
Der Notarzt schweigt kurz, bevor er eine zynische Antwort gibt, die nur einem Mediziner verziehen wird, der täglich mit dem Tod konfrontiert ist. „Jedes Stück, wirklich jedes Stück von ihm.“
Als sie im Spital ankommen, will sich Leconte aufsetzen, aber als sich alles zu drehen beginnt, lässt er sich wieder mit geschlossenen Augen auf die Tragbahre zurücksinken. Im Krankenzimmer fällt er sofort in einen unruhigen Schlaf. In seinen Träumen läuft Heather hilfeschreiend durch die Hotellobby und wird von einem lächelnden Fayez verfolgt, der eine Torte mit brennenden Kerzen in seinen Händen hält. Leconte will ihr helfen, aber seine Füße und Arme sind schwer wie Blei und die beiden entfernen sich immer weiter, bis er sie verzweifelt aus dem Blickfeld verliert.
MITTWOCH, 9. MAI, 17.30 UHR | PARIS, HÔPITAL BROCA
„Das Hörvermögen am linken Ohr wird vielleicht etwas vermindert bleiben“, sagt der Oberarzt. „Aber das wird sich erst in den nächsten Wochen herausstellen. Ansonsten ist bis auf eine Gehirnerschütterung und eine Nackenprellung alles in Ordnung. Nur der hohe Blutdruck gefällt mir nicht. Aber bei Ihrem Job ja wohl kein Wunder …“
Leconte ist nur froh, dass er all die lästigen Untersuchungen hinter sich hat.
„Dann kann ich ja endlich nach Hause gehen.“
„Eine Nacht behalten wir Sie zur Beobachtung hier. Und wenn Sie versprechen, sich zu schonen, entlassen wir Sie morgen früh.“
Erik Hofmeester, der gerade das durch heruntergelassene Jalousien verdunkelte Zimmer betritt, hat den letzten Satz noch mitgehört. „Seine Versprechen sind völlig wertlos“, sagt er.
Leconte weiß natürlich, worauf er anspielt. „Die kugelsichere Weste hätte mich nur beim Sprung über die Bar gestört. Und auch mit einer Waffe hätte ich die Explosion nicht verhindern können.“
„Und das haben Sie natürlich alles vorher gewusst“, sagt Erik.
Der Oberarzt beendet die Visite. „Sie haben sich sicherlich noch viel zu erzählen. Bis morgen früh, Monsieur Leconte.“
Erik wirft Leconte einen Brief aufs Bett. „Die letzte Nachricht des Poeten. Er hat sie nur zehn Minuten vor derExplosion aus der Hotellobby gemailt, als er gesehen hat, dass Sie seine Nachricht an der Rezeption abholen.“
Der Commissaire nimmt sie aus dem offenen Briefumschlag und liest.
„Wer das Schwert nimmt, muss durch das Schwert getötet werden.“
Er sieht Erik fragend an: „Ein Koranvers?“
„Nein, ein Bibelvers aus dem Matthäusevangelium.“
Leconte schüttelt nur kurz verwundert den Kopf, dann erinnert ihn ein stechender Schmerz an seine Gehirnerschütterung.
„In einigen Tagen sind Sie wieder der Alte“, sagt Erik. „Wir müssen, sobald Sie wieder auf den Beinen sind, ein FISA-Treffen einberufen. Es gibt jetzt eine völlig neue Situation.“
„Nein“, sagt Leconte, „es ist genau so, wie es vor dem Poeten war. Wir haben unsere große Chance vertan. Und ich werde nicht nochmals für einen solchen Fehler verantwortlich sein, denn ich werde nicht mehr bei der FISA mitarbeiten.“
Erik sieht ihn forschend an. „Sie sind in einem Ausnahmezustand. Morgen sieht alles ganz anders aus.“
„Morgen werde ich versuchen, einen anderen Fehler gutzumachen“, sagt Leconte und schließt demonstrativ die Augen. So sieht er nicht, wie Erik die letzte Nachricht des Poeten von der Bettdecke nimmt und leise das Krankenzimmer verlässt.
FREITAG, 11. MAI, 16.30 UHR | LONDON, CENTRAL STATION
Die Fahrt durch den Ärmelkanaltunnel hat Leconte verschlafen. Das gleichmäßige Fahrgeräusch des Eurostars hatte ihn binnen weniger Minuten eingeschläfert. Wegen seines schmerzenden Nackens wacht er kurz vor London auf. Er hatte den
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