Auch Deutsche unter den Opfern
Fahrstuhl, und es ist plötzlich wie in einem Science-Fiction-Film: Der unergründlich lächelnde Wissenschaftler (hier: Professor Güllner) führt den Gast in eine sonderbare Zwischenwelt, die der Forschung vorbehalten ist. Die Fahrstuhltüren öffnen sich, und man steht – wo? In der Zukunft? Im Weltall? Im Schulungszentrum für die nächste Menschenart? Jedenfalls hat man so etwas noch nie gesehen. An der Decke des großen hohen Raums hängen lange Neonröhren, humorloses Licht, guteArbeitsatmosphäre. Die Luft ist erfüllt von polyphonem Gemurmel. An 130 Arbeitsplätzen, in Vierer- und Fünferreihen, sitzen Männer und Frauen aller Altersklassen; alle denkbaren Stimmfarben, Temperamente, Bildungsschattierungen, Modestile, Frisuren und Gerüche scheinen hier vertreten zu sein. »Das sind unsere Interviewer«, sagt der Professor. Sie sitzen vor merkwürdig antiquierten Computern, tragen Kopfhörer mit Mikrophonbügel, sprechen und tippen im Wechsel. An den Wänden stehen Ventilatoren, die Oberfenster sind gekippt; auf den Tischen, zwischen Monitoren und Tastaturen: Wasserflaschen und Hustenbonbons.
Forschungsgegenstand ist die Gegenwart: Hallo Deutschland, wie geht’s? Forschungsabsicht sind Rückschlüsse (oder sagt man besser: Vorschlüsse?) auf die Zukunft: Was ist zu tun, zu beachten, zu ändern – und was wäre, wenn? Die so erhobenen Daten sind unverzichtbare Werkzeuge für Anbieter aller Art, für Süßwarenhersteller, Krankenkassen, Energieversorger, Fernsehsender, Zeitschriftenverlage und natürlich auch für politische Parteien. Kennt man uns, mag man uns, wo liegt das Problem? Die Anzurufenden werden von einem Zentralcomputer so ausgewählt, dass alle Regionen des Landes im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl vertreten sind in diesem täglichen Deutschland-Chor. Es werden ausschließlich Festnetznummern angewählt: Zwischen 17 und 21 Uhr ist er meistens zuhause, »der Deutsche«, den es natürlich nicht gibt, und dessen Befinden genau deshalb hier täglich empirisch ergründet wird. Repräsentativ zusammengesetzt wirkt schon die Gruppe der Interviewer; ja, bestätigt Güllner, man achte auf eine gute Durchmischung.
Und was tun die Deutschen so zu dieser Zeit, in der sie gefragt werden, ob man sie mal was fragen dürfe? Nun, etwa ein Drittel der von windigen »Unbekannter Teilnehmer«-Callcentern genervten Deutschen verweigert die Auskunft. Vielen jedoch macht es auch Spaß, mal umfassend ihre aktuellen Meinungen kundtun zu dürfen. Die meisten kommen gerade nach Hause, bereiten das Abendbrot, bringen die Kinder zu Bett, manche sitzen in der Badewanne, andere haben hörbar schon das erste Feierabendbier intus, hin und wieder ist der Forsa-Interviewer auchZeuge eines frühabendlichen Familienkrachs. »Soll ich später noch mal anrufen?«
Politiker sollten auferlegt bekommen, hier mal ein Stündchen zuzuhören: Die Sonntagsfrage ist nur eine von vielen, tatsächlich, »die Menschen« haben auch noch andere Sorgen. Den täglich anders zusammengesetzten Fragenkatalog zu beantworten, dauert eine gute Viertelstunde. Durch die sehr unterschiedlichen Auftraggeber ergibt sich da jeden Tag ein Themensalat, der das verwirrende Multitasking ganz gut abbildet, das der Alltag einem normalen Endverbraucherhirn abverlangt. Es geht zum Beispiel um die Paralympics, Benzinpreise, Sudoku, Literatur, Turnschuhe, Telefontarife, Weihnachtsgebäck, Medikamente – und, ja, auch um CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Die Linke. Politische Einstellung als eine von vielen Konsumgewohnheiten.
Auf den anachronistischen Computerbildschirmen von Forsa liest sich die Sonntagsfrage so: »Wen wuerden Sie waehlen, wenn am Sonntag Bundestagwahl waere?«
Forsa ist das einzige deutsche Institut, das diese Frage täglich, von Montag bis Freitag, stellt. Normalerweise wird mittwochs ein Wochenmittelwert von den beiden Auftraggebern »Stern« und RTL veröffentlicht, nur nach den SPD-Unruhen am Schwielowsee wurde ausschließlich der Montag-danach-Wert genommen, um ganz aktuell die Auswirkungen der Umbesetzung an der SPD-Spitze zu zeigen: Schwups, hatte die SPD vier Prozentpunkte hinzugewonnen. Doch konnte die SPD sich offiziell nicht lauthals über diesen Zugewinn freuen, hatte sie doch die Forsa-Werte in der jüngeren Vergangenheit stets als »unseriös« abgetan, weil sie dort immer so besonders schlecht weggekommen war. Güllner ist seit 1964 SPD-Mitglied, und er kennt die Vorwürfe natürlich, er kann sogar die Seite in Lafontaines Buch »Das
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