Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
Vom Netzwerk:
zuvor war die überraschende Nachricht durchgedrungen, dass Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat nun feststehe, die offizielle Verkündigung wird heute erwartet. Schon diese Meldung hatte zu erhöhtem Interesse an der SPD-Klausurtagung geführt, seit dem frühen Morgen ist das Hotel am See bevölkert von Kamerateams und Journalisten; bereits um kurz nach acht prüften die Reporter der Nachrichtensender Make-up und Frisur im Spiegelbild ihrer Kleinbusseitenfenster, sie waren bereit für die große Nachricht, von der ganz großen wussten sie noch nichts. Einzeln nacheinander – man hatte das Gefühl: streng hierarchisch sortiert, je mächtiger, desto später – waren dann die Sozialdemokraten in Limousinen angereist, alles noch ganz normal; die paar Ausnahmefahrzeuge wurden von den etwa 200 langsam ungeduldiger werdenden Journalisten nachrichtenhungrig notiert: Ypsilanti im Taxi, Struck auf dem Motorrad, Benneter in einem niedlichen Kleinwagen und ein paar Weristdasnochmals in einem Reisebus. Auf der Straße lärmte eine Ver.di-Abordnung mit brasilianischem Getrommel und Gerassel, um die SPD an den Mindestlohn von 7,50 Euro zu erinnern.
    Noch fehlten Steinbrück, Nahles, Steinmeier – und Kurt Beck. Der Beginn der Sitzung, so wurde nun in Manier der Stillen Post verbreitet, verschiebe sich um zwei Stunden. Im Foyer des Hotels saß der »Bericht aus Berlin«-Moderator Joachim Wagner und wusste nicht so recht, wen er am Abend gemeinsam mit Ulrich Deppendorf befragen würde, ratlos zog er die Schultern hoch: Angefragt hätten sie Beck und Steinmeier, aber jetzt wisse man nicht genau, wer von beiden weiterhin zum Interview bereit ist. Oder gar beide, zusammen? Man wisse es nicht. Überhaupt herrscht jetzt ein Klima, in dem Gerüchte prächtig gedeihen. Also, wird geflüstert, Steinmeier und Beck hätten ja eigentlich gemeinsam ankommen sollen, sie seien dann aber kurz vorher abgebogen, irgendwohin. Vor zwei Wochen schon hätten die beiden sich übrigens auf Steinmeiers Kandidatur verständigt. Nein, ganz anders, heißt es ein paar Meter weiter, vor drei Tagen habe es ein Geheimtreffen zwischen Beck, Müntefering und Steinmeier gegeben, und Beck sei dabei von seinen beiden Parteifreunden (ein Wort, das an diesem Tag allseits besonders ironisch ausgesprochen wird) gezwungen worden, Steinmeier die Kanzlerkandidatur zu überlassen, und zwar sofort.
    Um kurz vor eins dann große Aufregung: Steinmeier, Steinbrück, Heil (richtig, der hatte ja auch noch gefehlt) und Nahles kommen, Struck kommt sogar ein zweites Mal, diesmal im Auto, wie und warum das nun sein kann – wer weiß? Niemand weiß irgendwas. Und die Parteivorstandsmitglieder sagen auch nichts, sie lassen die Journalisten kommentarlos stehen, grüßen nur kurz. Tachchen. Die Aufregung steigert sich aber noch, denn ein paar Journalisten schwören nun, sie hätten in einem der Autos Kurt Beck gesehen, allerdings sei dessen Limousine an der Einfahrt zum Tagungshäuschen vorbeigefahren. »Der wusste von nichts, Steinmeier hat das an ihm vorbei lanciert«, mutmaßt ein Journalist.
    Im »Fontane-Zimmer« hat die Klausurtagung mittlerweile begonnen. Theodor Fontanes Beschreibung des Schwielowsees aus dem Jahr 1869 taugt, wenn man die Porträts über Kurt Beck richtig verstanden hat, auch als Charakterisierung des momentan offiziell noch amtierenden SPD-Vorsitzenden: »Wie alle gutmütigen Naturen kann er heftig werden, plötzlich, beinahe unmotiviert, und dann ist er unberechenbar.« Um kurz vor halb zwei verdichtet sich das Gerücht, Beck sei zurückgetreten. »Kurt macht den Oskar«, ruft jemand, andere melden, er sei kurz hier gewesen, wohl durch einen anderen Eingang gekommen, aber nun schon wieder fort, Beck ist weg, ist nicht mehr hier, ist nicht mehr SPD-Vorsitzender. Die Herren vom »Bericht aus Berlin« werden nervös: »Unser Interviewpartner ist uns abhandengekommen!«
    Wolken über dem Schwielowsee, kleines Wellengekräusel, in aufgekratzter Ausnahmesituationsstimmung wird nun mit Blick nach oben gesagt, jetzt müsse man wohl mit einem Gewitter rechnen, das würde doch passen. Idyllische Bilder, ja die legendäre »Geschlossenheit« hatte die SPD hier vorführen wollen, und zusehends gerät der Tag zu ihrem nächsten großen Durcheinander. Wenige Minuten später der nächste Kracher: »Münte macht’s!« Ein paar Journalisten halten SMS-Kontakt mit Klausur-Teilnehmern im Fontane-Zimmer, in dieser Hinsicht ist auf die SPD Verlass.
    Um zwanzig nach drei

Weitere Kostenlose Bücher