Auch Deutsche unter den Opfern
von Absperrgittern. Die Frage ist jetzt wirklich, wo man sich am besten hinstellt – wo wird Tom Cruise ganz bestimmt entlangkommen, wo wird er am längsten stehenbleiben? Die Sicherheitsleute sorgen mit gezielten Falschinformationen für eine gleichmäßige Fan-Verteilung, schon bald ist an jedem Gitter das Gedrängel groß. Auf monströsen Bildschirmen läuft in Endlosschleifen der Film-Trailer, leider ohne Ton. Mit Ton wäre es bestimmt toll, der Ton ist doch bei Hollywood-Filmen immer das, was die Bilder entscheidend verstärkt. Rummms! Zisch! Klong! Dolby Surround!
Es wird dunkel, der rote Teppich leuchtet jetzt schön im Scheinwerferlicht – und man erzählt sich, dass Tom Cruise nun wirklich gleich hier sein wird, angeblich wird er zwei Stunden lang Autogramme schreiben, Interviews geben und sich fotografieren lassen. Es ist sehr kalt, aber wenn man jetzt diesen Platz aufgibt, um sich in einem Café aufzuwärmen, war das ganze Zufrühhiersein umsonst. Also frieren und warten. Und sich freuen, dass auch die Wichtigtuer von der Filmfirma, die an jedem Sicherheitsmann vorbeidürfen, Probleme haben: Die zwei schwarzen Limousinen, die sie am Taxistand abgestellt haben, müssen da weg, erklärt ihnen eine Polizistin. Die Wichtigtuer zeigen auf die Tankdeckelbeschriftung, »Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat – Mit Mercedes Benz zur Premiere« steht da. »Ja, grüßen Sie den Herrn Cruise schön von mir, wenn er die Umsetzkosten bezahlt, ist ja alles gut. Falls Sie die Autos nicht umparken, lassen wir das machen, kein Problem«, sagt die Polizistin.
Wir werden den Film nicht sehen heute, wir sehen bloß immer wieder den Trailer, Tom ohne Ton – aber gleich kommt der echte Cruise ja zu uns ans Gitter. Es geht jetzt auch um Sportlichkeit: Mit jeder Minute mehr, die man hier der nächsten Erkältung entgegenfriert, steigert sich die Vorfreude auf Tom Cruise. Mit Tom Cruise wird dann die Wärme kommen, die Erlösung, die Antwort auf alle Fragen. Über den Film hat man schon während der Dreharbeiten so viel gelesen und gehört, dassman das Gefühl hat, dieser Film, der doch heute erst Europapremiere hat, sei schon hundertmal im Fernsehen gelaufen. Dieser Film wurde, noch bevor er abgedreht war, wahlweise als bahnbrechendes Meisterwerk oder als gefährlicher Mist apostrophiert. Merkwürdig, dass er jetzt wirklich in die Kinos kommt; man kann ihn sich ansehen, wie einen ganz normalen Kinofilm, und sich eine eigene Meinung bilden. Oder geht das gar nicht mehr? Für diesen Film, der – positiv wie negativ – mehr als ein Film, und dessen Hauptdarsteller, Produzent und Finanzier Cruise ja auch eine Überperson zu sein scheint, ist jedenfalls der Potsdamer Platz als Premierenort hervorragend geeignet: An diesem künstlichsten aller Berliner Orte, wo jeder Quadratmeter Architektur so sehr Metropole sein soll (und der genau deshalb ein Fremdkörper, eine Stadt in der Stadt bleibt), hat man nie das Gefühl, wirklich gerade in Berlin zu sein. Wenn überhaupt irgendwo, dann ist es hier vorstellbar, Tom Cruise gegenüberzustehen. Falls es den wirklich gibt.
»Tom! Tom!« – da ist er. Wir stehen offenbar am falschen Gitter. Sein Lächeln, Händeschütteln und Signieren wird auf den großen Bildschirmen gezeigt, was einerseits praktisch ist, von hier hinten würde man ihn sonst gar nicht sehen, so viele Menschen wuseln um ihn herum, und Cruise selbst ist ja, was man so gelesen und gesehen hat (auf Fotos, besonders, wenn seine Frau Schuhe mit hohen Absätzen trägt), auch nicht gerade ein Zweimetermann. Andererseits sieht man ihn wieder nur auf dem Bildschirm, wie immer halt, bloß friert man diesmal – was immerhin ein Hinweis darauf ist, dass das alles hier gerade echt ist. Cruise kommt nur zentimeterweise vorwärts, und davon haben alle etwas: Die meisten der Wartenden bekommen eine Unterschrift und ein gemeinsames Foto, und davon wiederum entstehen Bilder, die Werbung für Cruise (und, natürlich, diesen Film) machen – er nimmt sich Zeit für die Menschen, hat für jeden ein Lächeln, erzählen diese Bilder.
Hinter Cruise latscht, stolziert oder eilt (je nach Image-Wunsch) die zur Premiere geladene deutsche Prominenz. Weniger begabte Schauspielerinnen erscheinen praktisch in Unterwäsche, alles wie immer. DasWarten auf Tom Cruise vertreiben wir am Gitter Wartenden uns damit, selbst Teppichgänger, deren Namen und Beruf wir nicht kennen, um ein Autogramm zu bitten. Man wird so dankbar: »Hey, da ist Sven
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