Auch Du stirbst einsamer Wolf
daß ich für ein paar Tage nicht in Marseille wäre und mich sofort bei ihm melden würde, wenn ich wieder zurück wäre. Dann packte ich mir ein paar Sachen zusammen, die ich die nächsten Tage brauchen würde, und verabschiedete mich von ihm. Er meinte noch, daß ich keine Dummheiten machen und auf mich aufpassen solle. Dann verschwand ich aus seiner Wohnung und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Der Spaziergang dorthin tat mir gut, und ich fühlte mich irgendwie leichter als vorher. Am Bahnhof schaute ich nach, wann ein Zug in Richtung Nice fahren würde, denn ich wollte die Küste entlangfahren. Auf dem Weg zum Fahrkartenschalter fiel mir ein, daß ich schwarzfahren wollte, so wie es mich Jeanette gelernt hatte. Also ging ich zum Bahnsteig, ohne eine Fahrkarte gelöst zu haben.
Ich setzte mich in ein leeres Abteil, verstaute meine Tasche, zündete mir eine Zigarette an und wartete auf die Abfahrt. Die Zeit kam mir wie eine Ewigkeit vor, und ich wurde langsam nervös. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung.
Ich versank in Gedanken an Jeanette, und das immer monotone, gleichbleibende Geräusch des Zuges beruhigte mich irgendwie. Jeanette hatte mich wieder gefangengenommen. Ich sah sie regelrecht vor mir und hörte, wie sie sagte:
»Versprich mir, daß du ab heute immer schwarzfahren wirst und dabei an mich denkst.«
Wir fuhren gerade ein paar Minuten, als auch schon der Kontrolleur kam. Er fragte mich nach meiner Fahrkarte, und ich sagte ihm ganz frech, daß ich keine hätte. Bevor er nach meinem Ausweis verlangte, hielt ich ihn ihm schon hin. Er schaute mich etwas blöde an und nahm ihn. Als er sich wieder gefangen hatte, fragte er mich:
»Sie haben es doch nicht auf einen Strafzettel abgesehen?«
»Doch. Warum denn nicht?«
»Jetzt wollen Sie mich aber verarschen.«
»Nein, ich verarsche Sie nicht.«
Der Kontrolleur schüttelte den Kopf, als wenn er die Welt nicht mehr verstehen würde. Das war für ihn unbegreiflich, daß jemand einen Strafzettel haben wollte. Als er meine Daten aufgeschrieben hatte, fragte er mich:
»Sind alle Leute in Deutschland so komisch wie Sie?«
»Nein, alle nicht. Aber ich bin eben ein wenig anders als andere.«
Ich mußte noch unterschreiben und wurde darauf hingewiesen, daß ich an der nächsten Station aussteigen muße.
Dann schaute der Kontrolleur mich noch einmal an, schüttelte den Kopf und verschwand aus dem Abteil. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Den Strafzettel schmiß ich nicht weg, sondern faltete ihn sorgsam zusammen und steckte ihn in die Tasche. Ich wollte alle Zettel aufheben. Den teuersten wollte ich dann einrahmen lassen und über mein Bett hängen. Das hört sich zwar verrückt an, aber ich bin nicht verrückt.
An der nächsten Bahnstation stieg ich aus. Der Kontrolleur stand auf dem Bahnsteig, und als ich an ihm vorbeiging, sagte er: »Warum fahrt ihr nur immer ohne Fahrschein?« »Ganz einfach. Zur Erinnerung und Verewigung.« Da schaute er mich an, als wäre ich gerade aus einem Ufo gestiegen. Er verstand nichts mehr, aber es langt, wenn ich es verstand, dachte ich mir. Dann sagte ich ihm höflich auf Wiedersehen, aber er gab mir keine Antwort darauf, sondern schaute mich weiterhin doof an. Ich drehte mich um und ging ins Bahnhofscafé, da ich Lust auf einen starken Mocca hatte. Ich bestellte beim Kellner und dachte an den Kontrolleur. Wenn Jeanette dabeigewesen wäre, hätte er bestimmt noch dümmer aus der Wäsche geschaut. Der dachte bestimmt, daß ich nicht alle Tassen im Schrank hätte.
Vielleicht hatte ich sie auch nicht mehr alle im Schrank. Wer fährt heutzutage schon schwarz mit der Bahn und ist scharf auf einen Strafzettel? Das kann nur ein Verrückter sein.
Als ich bezahlt und das Café verlassen hatte, ging ich auf den Bahnsteig zurück, um festzustellen, wann der nächste Zug Richtung Nice fahren würde. Ich hatte noch eine ganze Menge Zeit zur Verfügung, und so ging ich an den Zeitungsstand und kaufte mir dort eine deutsche Bildzeitung. Bei uns in der Stadt sagte man dazu »Revolverblättle«. Ich schlug die Zeitung auf, und es stand mal wieder nichts Interessantes darin. Also nahm ich sie und warf sie gleich in den Mülleimer.
Auf einmal verspürte ich Hunger, und so ging ich in das Bahnhofscafé zurück, um mir dort ein Sandwich zu kaufen.
Das Sandwich aß ich auf dem Bahnsteig. Gemütlich stand ich da und vertilgte es. Auf einmal wurde ich von einer Frau, die hinter mir stand, angesprochen: »Haben sie mir
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