Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
besorgt. Ich bin nämlich die Wiedergeburt Hatschepsuts, wissen Sie.«
Diese Neuigkeit gab Lady Chevenix-Gore mit ruhiger Stimme bekannt.
»Und vorher war ich Priesterin in Atlantis«, fuhr sie fort. Major Riddle wurde in seinem Sessel etwas unruhig.
»Äh – äh – sehr interessant«, sagte er. »Ja, Lady Chevenix-Gore, ich glaube, das ist alles. Es war sehr freundlich von Ihnen.«
Lady Chevenix-Gore erhob sich und raffte das orientalische Gewand zusammen.
»Gute Nacht«, sagte sie. Und dann, die Augen auf einen Punkt gerichtet, der sich hinter Major Riddle befand: »Gute Nacht, Gervase – Lieber. Ich wünschte, du könntest mitkommen; aber ich weiß, daß du hierbleiben mußt.« Und als Erklärung fügte sie hinzu: »Mindestens vierundzwanzig Stunden mußt du dort bleiben, wo du hinübergegangen bist. Es wird also noch etwas dauern, bis du dich frei bewegen und Verbindung aufnehmen kannst.«
Dann verließ sie das Zimmer. Major Riddle wischte sich die Stirn ab.
»Puh«, murmelte er. »Sie ist doch erheblich verrückter, als ich annahm. Ob sie diesen ganzen Unsinn wirklich glaubt?«
Poirot schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Es ist möglich, daß es ihr hilft«, sagte er. »In diesem Moment hat sie es bitter nötig, sich eine Welt der Illusionen zu schaffen, so daß sie der krassen Wirklichkeit – dem Tod ihres Mannes – entfliehen kann.«
»Auf mich macht sie den Eindruck einer Wahnsinnigen«, sagte Major Riddle. »Ein gewaltiges Durcheinander von Unsinnigkeiten und kein einziges vernünftiges Wort.«
»O nein, mein Freund. Interessant ist vielmehr, wie Mr. Hugo Trent mir gegenüber beiläufig erwähnte, daß in dem ganzen Schwall gelegentlich eine gerissene Schlauheit zum Vorschein kommt. Das zeigte sich beispielsweise in ihrer Bemerkung über den Takt von Miss Lingard, die keine unerwünschten Vorfahren ausgräbt. Glauben Sie mir – Lady Chevenix-Gore ist alles andere als dumm.«
Er stand auf und wanderte im Zimmer hin und her.
»Es gibt in dieser Angelegenheit Dinge, die mir gar nicht gefallen. Nein – sie gefallen mir überhaupt nicht.«
Neugierig blickte Riddle ihn an.
»Sie meinen das Motiv für den Selbstmord?«
»Selbstmord – Selbstmord! Das ist völlig falsch. Hören Sie auf mich. Psychologisch ist es falsch. Für was hielt Chevenix-Gore sich selbst? Für einen Koloß, eine unendlich wichtige Persönlichkeit, für den Mittelpunkt des Universums! Bringt ein solcher Mann sich um? Bestimmt nicht. Viel wahrscheinlicher ist, daß er eher einen anderen vernichtet – irgendeine elende krabbelnde Ameise von menschlichem Wesen, die gewagt hat, ihn zu belästigen… Ein derartiges Vorgehen hätte er vielleicht für notwendig gehalten – für gerechtfertigt! Aber Selbstvernichtung? Die Zerstörung eines derartigen Ich?«
»Das klingt alles sehr schön, Poirot. Aber die Beweise sind doch klar genug. Tür abgeschlossen, Schlüssel in seiner eigenen Tasche. Fenster geschlossen und zugesperrt. Ich weiß, daß in Büchern so etwas vorkommt – im wirklichen Leben bin ich ihnen jedoch noch nie begegnet. Sonst noch etwas?«
»O ja – da ist noch etwas.« Poirot setzte sich in den Schreibtischstuhl. »Hier sitze ich, ich – Chevenix-Gore. Ich sitze an meinem Schreibtisch. Ich bin entschlossen, mich umzubringen, weil – weil, sagen wir, ich eine Entdeckung gemacht habe, die für den Familiennamen eine ungeheuerliche Schande bedeutet. Sehr überzeugend klingt es zwar nicht, aber es muß genügen. Eh bien, was tue ich also? Ich kritzele auf einen Bogen Papier das Wort SORRY. Gut, das ist möglich. Dann ziehe ich die Schublade des Schreibtisches auf, hole die Pistole heraus, die ich dort aufbewahre, lade sie, falls sie nicht geladen ist, und dann – erschieße ich mich dann etwa? O nein! Zuerst drehe ich meinen Stuhl zur Seite – so, und jetzt beuge ich mich ein bißchen nach rechts – so – und dann – und dann erst halte ich die Pistole an meine Schläfe und drücke ab!«
Poirot sprang auf, fuhr herum und sagte: »Ich frage Sie: Tut ein vernünftiger Mensch so etwas? Wenn beispielsweise dort drüben an der Wand ein Bild hinge, dann – ja, dann gäbe es für dieses Verhalten vielleicht eine Erklärung. Irgendein Porträt, dessen Anblick ein sterbender Mann als letztes mit hinübernehmen möchte! Aber ein Vorhang – ah non, das ergibt keinen Sinn.«
»Vielleicht hatte er den Wunsch, aus dem Fenster zu blicken. Ein letzter Blick auf seinen Besitz.«
»Mein lieber Freund, das wollen Sie
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