Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
habe nicht geweint, weil ich ein großer Junge bin und nächstes Jahr ins Internat komme.«
Poirot untersuchte den Hals des Jungen. Dann nahm er mich beiseite und murmelte:
»Heute nacht, mein Freund, wird etwas geschehen. Aber Mund halten – allen gegenüber!«
Mehr wollte er nicht verraten, und ich brannte den ganzen Abend vor Neugierde. Er zog sich früh zurück, und ich folgte seinem Beispiel. Als wir nach oben gingen, nahm er mich beim Arm und erteilte mir Instruktionen:
»Ziehen Sie sich nicht aus. Warten Sie lange genug. Löschen Sie Ihr Licht, und kommen Sie zu mir ins Zimmer.«
Ich folgte seinen Anordnungen und fand ihn auf mich wartend, als die Zeit kam. Er brachte mich mit einer Geste zum Schweigen, und wir schlichen uns ganz leise zu dem Flügel des Hauses, in dem die Kinder untergebracht waren. Ronald hatte ein kleines Zimmer für sich. Wir traten behutsam ein und suchten uns die dunkelste Ecke als Versteck aus. Das Kind atmete schwer und ungestört.
»Er schläft ziemlich fest, finden Sie nicht?« flüsterte ich. Poirot nickte.
»Schlafmittel«, murmelte er.
»Warum?«
»Damit er nicht aufschreit bei –«
»Wobei?« fragte ich, als Poirot innehielt.
»Beim Stich der Spritze, mon ami! Ruhig! Wir wollen lieber nicht sprechen, obwohl so bald noch nichts geschehen wird.«
Darin hatte sich Poirot aber getäuscht. Kaum waren zehn Minuten verstrichen, als sich die Tür leise öffnete und jemand vorsichtig das Zimmer betrat. Man hörte schnelles, hastiges Atmen. Schritte bewegten sich zum Bett. Dann gab’s plötzlich einen Knacks, und das Licht einer kleinen Taschenlampe fiel auf das schlafende Kind, während das Gesicht des Eindringlings im Schatten nicht erkennbar war. Er legte die Taschenlampe beiseite. Mit der rechten Hand zog er eine Spritze hervor, mit der linken berührte er den Hals des Jungen – Poirot und ich sprangen gleichzeitig zu. Die Taschenlampe rollte auf den Boden, und wir kämpften mit dem Eindringling im Dunkeln. Er besaß eine ungeheure Kraft, aber schließlich gelang es uns, ihn zu überwältigen.
»Das Licht, Hastings, ich muß sein Gesicht sehen, obgleich ich fürchte, daß meine schlimmsten Ahnungen bestätigt werden.«
Auch ich weiß, wer es ist, dachte ich, als ich nach der Taschenlampe tastete. Vorübergehend hatte ich den Sekretär in Verdacht gehabt. Daran war wohl meine heimliche Abneigung gegen diesen Mann schuld. Aber dann war ich überzeugt, daß Vetter Roger, der durch den Tod der beiden kleinen Jungen profitierte, das Ungeheuer war, das wir zur Strecke gebracht hatten.
Ich stieß mit dem Fuß gegen die Taschenlampe, hob sie auf und knipste das Licht wieder an. Es schien voll auf das Gesicht von – Hugo Lemesurier, dem Vater des Jungen! Die Taschenlampe fiel mir beinahe aus der Hand.
»Unmöglich«, rief ich, »unmöglich!«
Lemesurier war bewußtlos. Poirot und ich trugen ihn in sein Zimmer und legten ihn aufs Bett. Poirot beugte sich über ihn und zog sanft etwas aus seiner rechten Hand. Er zeigte es mir. Es war die Injektionsspritze. Mich schauderte.
»Was enthält sie? Gift?«
»Ameisensäure, vermutlich.«
»Ameisensäure?«
»Ja. Wahrscheinlich durch Destillation von Ameisen erlangt. Er war ja Chemiker, wie Sie wissen. Den Tod hätte man dem Bienenstich zugeschrieben.«
»Mein Gott«, murmelte ich, »sein eigener Sohn! Und Sie haben das erwartet?«
Poirot nickte ernst.
»Ja. Er ist natürlich wahnsinnig. Wahrscheinlich ist die Familiengeschichte bei ihm zur Manie geworden. Sein intensives Verlangen nach dem Familienbesitz hat ihn dazu verleitet, die lange Reihe von Verbrechen zu begehen. Möglicherweise kam ihm die Idee zuerst, als er mit Vincent in jener Nacht nach Norden fuhr. Er konnte es nicht ertragen, daß die Prophezeiung falsch sein sollte. Ronalds Sohn war schon tot, und Ronald selbst ein sterbender Mann – es ist ein schwächliches Geschlecht. Dann arrangierte er den Unfall mit dem Gewehr und das ist mir erst in dieser Nacht klargeworden – bewirkte den Tod seines Bruders John, indem er ihm Ameisensäure in die Schlagader spritzte, was er ja heute bei seinem Sohn auch vorhatte. Sein Ehrgeiz war damit erfüllt, und er wurde Herr der Familiengüter. Sein Triumph war jedoch von kurzer Dauer es stellte sich heraus, daß er an einer unheilbaren Krankheit litt. Wie alle Wahnsinnigen war er von einer fixen Idee besessen – der älteste Sohn eines Lemesurier kann das väterliche Erbe nicht antreten. Ich vermute, daß er auch an dem
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