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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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Zu meiner riesigen Erleichterung gesellte sich eine Mischung aus Überraschung, Respekt und Bewunderung, ein Gefühl, das sich im Laufe unseres gemeinsamen Lebens noch verstärken sollte. Da hat doch dieser kleine Bursche von so weit heimgefunden, obwohl wir noch nie vorher auf dem Scheibenbühel gewesen waren!
    Und noch eines begriff ich: Die Erreichung des Ziels, die Leine durch Bindung zu ersetzen, würde mich noch einiges an Nerven kosten. Aber ich war bereit dazu. Der Anfang war ja gar nicht so schlecht gewesen...
     
    8
    MONTAG, 28. JUNI
    LE TEMPLE - ROCHEFORT-EN-TERRE
     
    Der Tag beginnt so, wie der gestrige aufgehört hat: mit bester Laune, angenehmen, frischen Temperaturen - und mit einer Begegnung. Veronique und Emmanuel, ein junges Paar, kommen bei ihrem Morgenspaziergang an meinem Schlafplatz vorbei, ich bin gerade beim Zusammenpacken. Als ich mich als Jakobspilger zu erkennen gebe, sind die beiden begeistert, fasziniert und auch ein bisschen neidisch, weil ich genau das tue, was sie schon seit Jahren planen, wozu sie bisher aber nie Zeit gefunden haben. (Ach, wie oft ich das schon gehört habe! Dabei ist es nur eine Frage der mittelfristigen Prioritätensetzung. Denn kurzfristig sind wir alle eingebunden in die möglichsten und unmöglichsten Verpflichtungen, in objektive und subjektive Zwänge.)
    Wie alte Nachbarn stehen wir unter „meiner“ Eiche, erzählen aus unserem Leben, ich ihnen von Santiago und vom bretonischen Jakobsweg. Beide würden gerne mit mir weitergehen. Sie versichern mir glaubhaft, dass sie unendlich bedauern, mir nicht schon gestern Abend begegnet zu sein, sie hätten mich so gerne beherbergt. Ich bin mir bewusst, dass ich schon wieder den frühen, frischen Vormittag, die beste Zeit zum Gehen, verplausche, und weiß, dass ich die Rechnung dafür am Nachmittag serviert bekommen werde. Aber was soll’s, für den Zauber dieser Begegnung nehme ich die Hitze des späten Nachmittags gerne in Kauf. Auch hier handelt es sich um einen klaren Fall von Prioritätensetzung, und ich denke mir, dass klare Prioritäten das Leben im Allgemeinen ungemein erleichtern würden. Als wir uns nach über einer Stunde herzlich voneinander verabschieden, sind wir alle drei reicher geworden, jeder hat vom andern genommen und ihm auch gegeben!

    In den Landes de Pinieux
     
    Beim Durchqueren des Märchenwaldes vergehe ich mich, da der circuit botanique, ein botanischer Rundwanderweg, seit meinem letzten Besuch umgeleitet worden ist. Ich hab’s zu spät gemerkt, und nach einer Ehrenrunde starte ich im Endeffekt wieder erst gegen elf Uhr, nicht viel früher als am Vortag. Die zwei Stunden werde ich am Nachmittag anhängen müssen, oje, das wird heiß! Aber eine knappe Viertelstunde
    später verstehe ich, warum die Ehrenrunde im Märchenwald notwendig war. Ich bin gerade flotten Schrittes auf der kleinen Straße in Richtung SERENT unterwegs, als ein entgegenkommendes Auto bei mir stehen bleibt - mit Emmanuel am Steuer! Er ist so glücklich über unser nochmaliges Zusammentreffen, ich übrigens auch, und hat, weil er gerade vom Einkäufen kommt, endlich die Möglichkeit, mir konkret zu zeigen, wie er meinen Pilgerweg schätzt. Ich muss (und ich weiß, ich muss, denn es ist für ihn wichtig) eine Flasche Mineralwasser und eine Packung Keks von ihm annehmen, das Einzige von seinem Einkauf, das auch für mich (Nähr-)Wert besitzt. Aber ich weiß, dass der symbolische Wert seines Geschenks unendlich höher ist.
    Jetzt ist es Mittag geworden, die Sonne knallt herunter, und ich muss mich wieder einmal sputen. Doch es geht ganz gut, denn ich fühle mich rundherum wohl und voller Energie. Apfel- und Wasserpause auf dem schattigen Parkplatz vor dem Résistance-Museum in SAINT-MARCEL (ich nehme mir fest vor, es bei meinem nächsten Bretagne-Besuch anzuschauen), Einkauf im Supermarkt in MALESTROIT, der nächsten cité de caractère, kurzes Wiedersehen mit dem Nantes-Brest-Kanal, den ich bei SAINT-GOBRIEN zum letzten Mal gesehen habe, dann endlich, es ist schon 15 Uhr, eine verspätete Mittagsrast in einem Föhrenwäldchen auf einem Hügel oberhalb von MALESTROIT.
    Der Nachmittag erfüllt alle meine Befürchtungen. In der hügeligen Landschaft, wo auf jeden bergab führenden Wegabschnitt stets ein steilerer bergauf folgt - so scheint es mir zumindest -, muss ich meine letzten Reserven aktivieren. Die Hitze ist mörderisch, sie dörrt Mund und Rachen aus, macht die Zunge ganz pelzig. Immer wieder muss ich unterwegs in den

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