Auch Santiago hatte einen Hund
täglich von mir auf einen längeren Spaziergang mitgenommen. Ich nahm sein Bewegungsbedürfnis sehr ernst, wusste ich doch, dass es ihm gut tat und für den Aufbau einer Beziehung äußerst förderlich war, außerdem gehörte Wandern schon immer zu meinen Lieblingstätigkeiten. Ich lebte damals am nordöstlichen Stadtrand von Innsbruck, in Steinwurfnähe vom Waldrand entfernt, und konnte mir beruflich problemlos die Zeit so einteilen, dass Ajiz täglich auf seine Rechnung kam. Einmal führte uns unser Spaziergang zum Scheibenbühel, gute 45 Minuten von zu Hause entfernt, einem wunderschönen Wiesenhang am Waldrand, von wo aus man einen prächtigen Ausblick auf das Inntal hat. Oft traf ich dort auch andere Hundebesitzer, mit denen sich meistens ein netter Plausch wie unter Kinderwagen schiebenden Eltern ergab, während unsere jeweiligen Hunde auf ihre Art und Weise miteinander kommunizierten, was für die Entwicklung des Hundes zu einem sozialen, freundlichen und verträglichen Wesen von enormer Bedeutung ist! Doch der Scheibenbühel war auf Grund seiner Steilheit und seiner exponierten, dem Wind ausgesetzten Lage ebenso für andere Gruppen attraktiv. Der Innsbrucker Modellflieger-Club hatte dort seine Basis, und hin und wieder trainierten dort auch Drachenflieger-Anfänger Start und Landung. Eines schönen Vormittags stand ich gerade am Fuß des Abhangs, neben mir der kleine Ajiz, und beide bewunderten wir die mit Blumen übersäte Wiese - eine Pracht, wie sie bei uns nur der Juni hervorzubringen im Stande ist -, und genossen die herrliche Aussicht auf das sonnenüberflutete Tal. In diesem Augenblick vernahm ich in meinem Rücken ein kaum wahrnehmbares, leises Geräusch. Ich wandte meinen Blick, um die Quelle dieses Geräusches zu ergründen, und sah, dass wenige Meter hinter uns gerade ein Drachenflieger zur Landung ansetzte. Gleichzeitig bemerkte ich jedoch auch eine schwarz-weiße Wollkugel, die in einem Tempo, das ich ihr - oder besser ihm, denn es handelte sich um Ajiz - niemals zugetraut hätte, auf den etwa 200 Meter entfernten schützenden Wald zurannte. Längst hatte er den Schatten wahrgenommen, den der landende Drachenflieger vor uns auf den Boden geworfen hatte. Sofort lief ich Ajiz hinterher, rief ihm während des Laufens beruhigende Worte zu - vergeblich. Bald war er im Wald verschwunden.
Viel später erst habe ich begriffen, dass ein von Panik erfasster Hund mich gar nicht mehr wahrnimmt, also nicht ungehorsam ist, wenn er auf mein Pfeifen und Rufen nicht reagiert, sondern all seine Sinne nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet sind: Rette sich, wer kann! In unserem Fall, das hatte ich schon verstanden, war der Drachenflieger für ihn ein riesiger Raubvogel, der sich auf ihn zu stürzen drohte. Diese Wahrnehmung kommt aus der Zeit, wo seine Vorfahren, die Wölfe, ihre Jungen gegen die Bedrohung aus der Luft verteidigen mussten. Zeit seines Lebens verlor er diese Angst nicht. Auch Fesselballons und Paragleiter versetzten ihn immer wieder in Panik und lösten einen unwiderstehlichen Fluchtreflex aus. Ähnliches berichten Jäger vom Wild in ihrem Revier und Bauern von ihrem Vieh auf der Weide, das in Panik blindlings die Flucht ergreift, manchmal mit tödlichen Folgen, wenn die Herde bzw. das Rudel in einen Abgrund stürzt. Das Ungetüm in der Luft ist auch für sie ein herabstürzender Raubvogel, der Schatten am Boden und das unheimliche pfeifende Geräusch sind Feindsignale.
Da stand ich also und sah den kleinen Ajiz im Wald verschwinden, fast eine Gehstunde von zu Hause entfernt. War’s das jetzt? Würde er sich verirren, würde ihn jemand finden und behalten, würde er einem Jäger vor die Flinte oder einem Auto unter die Räder (wenn er den Wald verließe) laufen? Traurig und voll trüber Gedanken machte ich mich auf den Heimweg, alle Spaziergänger unterwegs fragend, ob sie nicht einen kleinen, wunderschönen, schwarz-weißen Hund vorbeilaufen gesehen hätten. Zuerst bekam ich nur negative Antworten, doch ein älteres Ehepaar ließ meine Stimmung gleich beträchtlich steigen, denn sie hatten Ajiz tatsächlich gesehen, wie er in hohem Tempo, unbeirrt und zielsicher an ihnen vorbeigelaufen war. Als ich wenig später zu Hause ankam, in Gedanken hatte ich mich schon auf eine lange Suche, Meldung bei der Polizei, Nachfrage im Tierheim usw. eingestellt, sah ich ihn vor dem Gartentor sitzen, mit einer Miene, als ob er mir sagen wollte: „Wo bleibst du denn, ich warte schon eine ganze Weile auf dich!“
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