Auch Santiago hatte einen Hund
aufhöre, mir Vorwürfe zu machen. Das Weinen hat
mir gut getan, ich kann den wunderschönen Sommertag wieder bewusst wahrnehmen und die Landschaft genießen, die sich vor mir ausbreitet: den kleinen Fluss Arz (Bär auf Bretonisch), an dessen schattigen Ufern ich die obligate Apfel- und Wasserpause mache, die alten Windmühlen, die sich auf der Hügelkuppe wie die Glieder einer Kette aneinander reihen. Oh schönes Pilgerleben!
In Redon
Gegen Mittag wird die Hitze wieder fast unerträglich. Gott sei Dank ist die heutige Etappe nach REDON tatsächlich und nicht nur in meinen Plänen kürzer. Bisher hatte mir ja zumeist ein verspäteter Aufbruch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Für die bei solchen Temperaturen besonders wichtige Mittagsrast und Siesta finde ich eine Eiche, die mir großzügig kühlen Schatten spendet. Dann erwartet mich bis REDON eine Hitzeschlacht, die mir alles abverlangt: zunächst auf einem schatten-, weil baumlosen Feldweg, dann am Kanal entlang, auf den ich hier wieder treffe. Die tief stehende Nachmittagssonne kommt jetzt von rechts. Jeder Meter wächst auf 150 Zentimeter an, der Schweiß brennt in den Augen, rinnt zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter, das klatschnasse T-Shirt klebt am Körper. Der Rucksack füllt sich mit Blei, seine Träger schneiden schmerzhaft in die Schultern ein, er reibt an den Hüften, tut weh. In solchen Momenten wird aus der Pilger- eine Büßerreise. Vollkommen ausgedörrt erreiche ich REDON. Dort aber nimmt mich die mächtige romanische Benediktinerabtei SAINT-SAUVEUR in ihrer erfrischenden Kühle und erholsamen Stille auf, in der ich lange verharre, zur Ruhe komme und der Menschen gedenke, die mir nahe stehen. Im Kreuzgang kann ich meinen Wasservorrat wieder auffüllen, bevor ich mich auf die Suche nach einem Schlafplatz mache. Im Nachbarort SAINT-NICOLAS zwei Kilometer weiter soll es am Kanalufer ein Gîte geben - es wäre dann das erste seit meinem Aufbruch. Müsste schön sein, direkt am Kanal. Erfahrung macht klug, auch mich, deshalb erkundige ich mich vorsichtshalber im Fremdenverkehrsbüro von REDON, ob es auch geöffnet ist. Ich will nicht wieder vor verschlossenen Türen stehen, mir vor Frust und Zorn in den Hintern beißen und mich in der Hitze wieder zurück nach REDON schleppen. Et voilà: Das Gîte gibt es gar nicht mehr. Die Jugendherberge in REDON hingegen ist offen, die 15 Minuten dorthin schaff’ ich noch. Ich bin in dem Lehrlingsheim, das in der Ferienzeit als Jugendherberge dient, fast allein und habe auch das Zimmer für mich. Mit dem Pilgerausweis bekomme ich eine schöne Ermäßigung, sodass ich für Übernachtung, Abendessen und Frühstück nur 18 Euro berappen muss. Super! Es wird ein richtig entspannender Ausklang des Tages mit Tageszeitung und Fernsehen im Aufenthaltsraum (da gibt es außerhalb meines Pilgerlebens doch tat sächlich noch eine Welt!) und dem durchaus annehmbaren Menü, inklusive Rotwein, wir sind ja in Frankreich. Ich beschließe, dass es mir gut, ja sehr gut geht und dass meine Pilgerreise bisher gut läuft. Heute war übrigens mein Namenstag und der erste Tag ohne Begegnung.
Autos sind größer, schneller und stärker
Wir sitzen zu viert beim Abendessen in Claret, einem kleinen Dorf 20 km nördlich von Montpellier. Meine Freundin Heike und ich sind auf einer dreiwöchigen Urlaubsreise im VW-Campingbus in Südfrankreich unterwegs, seit gestern sind wir zu Besuch bei meinen Freunden Eva und Christian aus Chile. Nach Folter und Gefängnis im Zuge des faschistischen Putschs von 1973 waren sie nach Frankreich geflüchtet und hier aufgenommen worden. Ich kenne sie aus meinem Studienjahr in Montpellier, seit dieser Zeit sind wir in freundschaftlichem Kontakt geblieben. Heute ist jedoch nichts von Wiedersehensfreude zu spüren, die - an sich wunderbaren - Empanadas, gefüllte Teigtaschen, wollen keinem so recht schmecken. Die Stimmung ist gedrückt, unsere Gespräche drehen sich, den ganzen Tag über schon, ausschließlich um eine Frage. Erraten: Wo ist Ajiz? Wie mag es ihm wohl ergehen, seit er heute früh beim Morgenspaziergang auf den Weinfeldern von einem Auto angefahren wurde und voll Angst und Panik (und Schmerzen?) zwischen den Weinstöcken verschwunden ist? Er war irgendeiner Spur in die Weinfelder gefolgt, Heike und ich spazierten auf dem kleinen, asphaltierten Wirtschaftsweg, der ins Dorf führte. Da hörte ich, wie sich von hinten, relativ langsam, ein Auto näherte. Rasch
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