Auch Santiago hatte einen Hund
mich nicht eindösen lassen, und ab der Wallfahrtskirche von SAINT-GOBRIEN, die ich schon alleine des Schattens wegen gerne aufsuche (sie ist aber auch ein wunderbares, berührendes Beispiel für die tiefe Religiosität der Bretonen), zieht sich eine mir mörderisch scheinende Steigung, auf Asphalt, schattenlos und nicht enden wollend. Die Stunden des späten Nachmittags sind mir bei meinen früheren Pilgerreisen oft schon als die heißesten des Tages vorgekommen, wahrscheinlich, weil die Sonne tiefer steht und einem voll ins Gesicht knallt: Jakobspilger sind ja meistens in Richtung Westen unterwegs. Jedenfalls bin ich, als ich in LE TEMPLE tatsächlich erst um 20 Uhr ankomme, innerlich völlig ausgetrocknet, äußerlich in Schweiß gebadet, fix und fertig. Da ist mir die halbe Stunde bis zur Katharinenkapelle einfach zu weit, ich will nur mehr rasten, duschen, essen und trinken, trinken, trinken!
Die Kapelle Sainte-Catherine bei Lizio
Der Tag hält jedoch noch eine ganz böse Überraschung für mich bereit: Das Gîte in Le Temple - Gîtes sind eine Art Selbstversorgerherbergen - ist seit einem Jahr geschlossen, und niemand in Weiler ist gewillt, mich für eine Nacht in einer Scheune oder sonst wo schlafen zu lassen. Zum ersten Mal stoße ich nur auf Gleichgültigkeit und Desinteresse. Was nun? Zum Campingplatz von LlZIO sind es mindestens 40 Minuten! Heute sicher nicht mehr drin, da hätte ich früher vom Weg abbiegen müssen, aber ich war ja sicher, dass das Gîte in LE TEMPLE offen sei. Nach der obligaten Phase, in der sich Zorn, Verzweiflung und Ratlosigkeit abwechseln, beruhige ich mich wieder und erinnere mich -ich kenne den Weg ja auswendig -, dass nur wenige Minuten nach dem Weiler ein traumhaft schöner Abschnitt beginnt, der durch einen Märchenwald führt, unter den weit ausladenden Ästen von uralten Eichen hindurch und an einem klaren, sauberen Bächlein entlang. Sicher finde ich dort einen guten Schlafplatz. Die schwüle Hitze des Tages hat einer angenehmen Frische Platz gemacht, die untergehende Sonne taucht den Wald jetzt wirklich in ein zauberhaftes, weiches Licht, Proviant ist dank Elisabeth noch mehr als genug im Rucksack, Wasser zum Waschen, Kochen und Trinken in Hülle und Fülle vorhanden, Gaskocher, Alumatte und Schlafsack, alles da, besser könnte ich es doch gar nicht treffen! Und so beschließe ich den Tag doch noch harmonisch und tief zufrieden im Gras unter einer Eiche, während mir die zwei Pferde in der Koppel unweit von meinem Platz schnaubend Gesellschaft leisten und sich der Abend langsam über uns senkt. Sogar ein freundlicher Abendspaziergänger bleibt noch auf einen kleinen Plausch bei mir stehen und vertreibt so meine Sorge, dieser Tag könnte der erste ohne nette Begegnung sein. Ich vermute, wenn ich mich nicht schon häuslich unter der Eiche eingerichtet hätte, so wäre mir heute noch seine Gastfreundschaft zuteil geworden.
Es ist schwer rational zu erklären, aber wieder habe ich das starke Gefühl, beschützt zu werden...
Fluchten...
Noch bevor ich stolzer Hundebesitzer wurde, steckte ich mir mein wichtigstes Ziel: Ich will so weit kommen, dass Ajiz keine (oder fast keine) Leine mehr braucht, dass diese ersetzt wird durch meine Stimme bzw. durch seine Bindung an mich. Einmal war ich einem Bekannten begegnet, der auf seinem Rad die ganze Stadt durchquerte, während sein - nicht angeleinter - Hund hinter ihm herlief und dabei weder nach links noch nach rechts schaute. Ich war tief beeindruckt und erkannte, glaube ich, in dem Moment, dass Erziehungsarbeit eigentlich Beziehungsarbeit ist. Und dass man nur dann mit Freiheit umzugehen lernt - ob Kind oder Hund ist in diesem Fall gleichgültig -, wenn man sie hat! Was bedeutet, dass sie, bis sie erlernt ist, auch missbraucht werden kann. Diese Erkenntnis umgelegt auf Ajiz hieß für mich, dass er mit Sicherheit nie abhauen würde, wenn er immer an der Leine wäre. Aber er würde nie lernen, mir auch ohne Leine zu gehorchen -und im Umkehrschluss: Wenn ich will, dass er es lernt, muss ich ihn von der Leine lassen, wissend, dass ich damit gleichzeitig das Risiko eingehe, dass er abhaut, wenn ein äußerer Reiz stärker ist als die Bindung an mich. Also - Erziehungsarbeit ist gleich...
Die erste seiner vielen noch folgenden „Fluchten“ wurde jedoch durch einen Reiz ausgelöst, der stärker ist, als seine Bindung an mich jemals werden konnte: Angst und Panik. Schon im zarten Alter von drei Monaten wurde Ajiz
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