Auch Santiago hatte einen Hund
entsetzliche Rückenschmerzen, aber das wird sich schon legen, wird wohl nichts Ernsteres sein. Die Besprechung ist zu Ende, noch schnell ein Kaffee, dann Abschied und Aufbruch, keine Zeit zum Trödeln. Aber wo ist Ajiz?
Die beiden Kinder schauen unschuldig drein: „Keine Ahnung!“ „Habt ihr nicht mit ihm gespielt?“
„Ja, schon, aber dann wollte er nicht mehr und ist hinausgegangen.“
„Und warum habt ihr mir nichts gesagt?“
Betretenes Schweigen.
Schimpfen hat keinen Sinn, das Unglück ist schon geschehen, es gibt jetzt Dringenderes zu tun. Außerdem ist Ajiz mein Hund, ich hätte besser aufpassen sollen. Was nun folgt, kann ich nur mangelhaft mit dem Wort Albtraum umschreiben. Das Kulturzentrum liegt beinahe in der Stadtmitte, der Südring, die meistbefahrene Straße von Innsbruck, verläuft in maximal 100 m Entfernung davon, und Ajiz ist gerade einmal vier Monate alt! Mit der Horrorvision eines blutigen Fellknäuels vor Augen mache ich mich verzweifelt auf die Suche nach ihm, den Schmerz im Rücken mühsam verbeißend, die Gegend vom Kulturzentrum aus spiralförmig durchkämmend. Bis zum Bergisel führt mich meine Suche, doch keiner der zahlreichen Passanten, an die ich mich wende, hat Ajiz gesehen. Bald gehe ich dazu über, nur mehr Hundebesitzer zu fragen, bei ihnen stoße ich auf mehr Interesse und Anteilnahme, außerdem nehmen sie andere Hunde eher wahr. Ergebnislos. Meine Verzweiflung wächst, mein Tagesprogramm habe ich längst über Bord geworfen. So schnell ändern sich scheinbar unverrückbare Prioritäten! Doch einkaufen muss ich auf jeden Fall, in St. Sigmund wartet die Köchin auf die Lebensmittel für das Abendessen der Gruppe, die wir gerade im Haus haben. Mittlerweile ist es 14 Uhr, ich brauche Hilfe, alleine habe ich keine Chance. So klemme ich mich ans Telefon und rufe zuerst Eltern, Geschwister und alle Freunde und Bekannten an, die Ajiz vertraut sind und in der Stadt wohnen. Vielleicht ist er bei einem von ihnen aufgetaucht, mit seinem Orientierungssinn habe ich ja schon Bekanntschaft gemacht. Negativ. Also versuche ich es bei Polizei und Tierheimen, ohne große Hoffnung, dass es was bringt, aber ich will nichts unversucht lassen. Dann der allerletzte Anruf beim Tierheim Mentlberg. Ja, heute Nachmittag wurde ein junger, schwarz-weißer, sehr schöner Hund abgegeben. Er sei Kindern bei folgender Adresse (hier setzt mein Herzschlag kurz aus, sie befindet sich jenseits des Südrings, er hat diesen also heil überquert!) zugelaufen, ihre Eltern haben ihn gebracht. Das Tierheim schließt um 17 Uhr, wenn ich meinen Hund heute noch abholen will, muss ich dies vorher tun. Ich schaffe es noch, alles unter einen Hut zu kriegen: einkaufen, Hund abholen (unendlich erleichtert schließe ich ihn in die Arme!), sogar zu Hause kann ich noch vorbeifahren. Ajiz hat eher ein schlechtes Gewissen und seine Wiedersehensfreude scheint nicht besonders groß zu sein. Aber vielleicht muss ich seine Körpersprache erst besser lesen lernen. Zum Arzt sollte ich noch, ich brauche eine Spritze gegen die Kreuzschmerzen, die kaum noch auszuhalten sind. Mit den Lebensmitteln komme ich sogar noch rechtzeitig nach St. Sigmund, keiner muss wegen Ajiz’ Ausreißer hungern!
Seit heute bin ich bin zwar stolzer Besitzer eines Bandscheibenvorfalls (so lautet jedenfalls die Diagnose meines Arztes), aber ich habe Ajiz wieder, und das ist die Hauptsache. Er scheint mir wirklich ans Herz wachsen zu wollen!
9
DIENSTAG, 29. JUNI
ROCHEFORT - REDON
Beginnt jetzt auch mein Unterbewusstsein zu akzeptieren, dass er tot ist? Zum ersten Mal seit seinem Tod habe ich von Ajiz geträumt. Meine Trauerarbeit macht also Fortschritte - dafür ist diese Pilgerreise ja gedacht. Ich bin froh und traurig gleichzeitig.
Beim Abschied von Beppino knapp vor zehn Uhr (schon wieder beim gemeinsamen Frühstück verplauscht!) muss ich versprechen wiederzukommen. Warum auch nicht? ROCHEFORT ist von AURAY wirklich nicht weit entfernt (und ihre Veranstaltungen scheinen interessant). Während ich über das kleine, ginsterbewachsene Plateau wandere, das sich gleich östlich von ROCHEFORT T erhebt, denke ich noch eine ganze Weile an Ajiz, ungehindert lasse ich die Tränen über mein Gesicht laufen. Ich wünsche, ich könnte seinen letzten Tag noch einmal erleben und richtig Abschied von ihm nehmen, anstatt ihn in Panik zum Tierarzt zu bringen und einschläfern zu lassen. Wahrscheinlich wird es noch dauern, bis ich mir selbst verzeihe und
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