Auch Santiago hatte einen Hund
trennen, blieb er stehen, blickte auf die Wegweiser (es sah tatsächlich so aus, als würde er lesen!), schaute zurück zu mir und entschied sich dann ohne zu zögern für den Winterweg. Was für mich völlig logisch war, schließlich nahmen wir bergauf immer den Winterweg, grenzte für die Kinder an ein Wunder. Noch nie zuvor hatten sie einen lesenden Hund gesehen! Ajiz stieg von diesem Moment an noch mehr in ihrem Ansehen; ich als sein Freund und Besitzer profitierte auch davon; und jahrelang noch kam die Rede immer wieder auf jenen legendären Rodelausflug.
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SONNTAG, 4. JULI
GETIGNE - MORTAGNE-SUR-SEVRE
Heute sind es zwei Wochen, dass ich unterwegs bin. Es hat seitdem immer wieder gute Momente gegeben, vor allem meine Begegnungen waren positive Höhepunkte, aber ich vermisse diese dauerhafte, energiegeladene Grundstimmung, dieses Gefühl der „Leichtigkeit“, das ich von meinen bisherigen Pilgerreisen her noch gut in Erinnerung habe. Oder romantisiere ich und vergesse das Negative? Was meine jetzige Pilgerfahrt bislang auszeichnet, ist eine andere Grundstimmung, die sich am ehesten mit „Durchhaltewillen“ umschreiben lässt. Na ja, ist auch eine gute Basis zum Weitergehen. Obwohl, anders wäre es mir eindeutig lieber.
Die Nacht im Zelt hatte ich gut verbracht, nur war es morgens auch im Inneren tropfnass - die Kälte der Nacht und die hohe Feuchtigkeit am Fluss haben sich da wohl gut ergänzt.
Die Mittagspause möchte ich wieder an einem schon ausgewählten Platz verbringen - unter der riesigen Platane von über zwei Metern Durchmesser, die mich schon letztes Jahr in ihren Bann gezogen hat.
Da habe ich aber sowohl die Entfernung als auch das äußerst schwierige Gelände bis dorthin vollkommen unterschätzt! Am frühen Nachmittag erst bin ich dort. Der Weg führt bergauf, bergab, vor allem machen ihn aber die zahlreichen, leider vergeblichen Sperren gegen Mountainbiker für einen Wanderer mit einem doch nicht leichten Rucksack nur erschwert passierbar: Die schmalen Durchlässe zwingen mich, ihn entweder über die Sperre zu wuchten oder mitsamt seiner Last auf dem Rücken drüberzuklettern - beides umständlich und mühsam. Seit Tagen schon steigt mein Unmut über die wild gewordenen Mountainbiker, die den Sèvre-Weitwanderweg, der großteils doch nur ein recht schmaler Pfad ist, unsicher machen. Die Mountainbike-Manie in ihrer radikalen und rücksichtslosen Ausprägung wirft ja ein bezeichnendes Licht auf unsere westliche Industrie- und Freizeitgesellschaft. Sport bringt hier weniger Naturverbundenheit als vielmehr den Narzissmus und das daraus abgeleitete Schönheitsideal unserer Gesellschaft zum Ausdruck: jung, fit, schlank, dynamisch, erfolgreich und aggressiv. Da hat der auf Langsamkeit, Tiefe und authentischer Begegnung beruhende „Pilgeransatz“ keine Chance: zu anstrengend, zu unattraktiv, zu radikal. Auf den großen und von Massen frequentierten Jakobswegen in Spanien und auch schon im Süden Frankreichs merkt man das nicht, denn da ist Pilgern „in“, wird hauptsächlich als Alternativtourismus gesehen und praktiziert, der freilich nichts grundlegend verändert, auch und schon gar nicht die Menschen. (Kriterium: Wie sieht mein Lebensentwurf nach dem Pilgern aus?) Mir fällt da Amos Vogel(baum) ein, Philosoph und Filmwissenschaftler, 1921 in Wien geboren und 1938 in die USA emigriert, der den Kapitalismus auf treffende Weise charakterisiert hat:
„Der Kapitalismus besitzt die Fähigkeit, Opposition (oder oppositionelle, alternative Lebensformen) zu absorbieren, zu pervertieren und gleichzuschalten sowie das oppositionelle Produkt selbst in einen Gebrauchsgegenstand zu verwandeln!“
Hoppla, das trifft doch auch auf die jüngste Entwicklung des Pilgerns zu. Auf dem bretonischen Pilgerweg, weitab von den Hauptrouten und entsprechend schwierig, wo sich der peregrinus vor allem im Einzugsbereich der Städte unter den zahlreichen Joggern und Mountainbikern als Außerirdischer fühlt, wird der Unterschied ganz deutlich. Obwohl, auch Suchende gibt es jetzt wirklich mehr, das merke ich an den vielen Gesprächen, die ich führe, und besonders an den kraftspendenden Begegnungen auf meinem Weg. Gerade heute habe ich eine der schönsten bisher. Wenige Minuten, bevor ich die große Platane erreiche, komme ich an einer Gruppe vorbei, die sich gerade für ein gemeinsames Essen an einem der oberhalb des Sèvre-Ufers aufgestellten Picknick-Tische niederlässt. Ich grüße, sie grüßen
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