Auch Santiago hatte einen Hund
Ajiz nach Santiago aufbrach, meine Motivation, meine Kraft-Ajiz? Würde ich die 1600 Kilometer, würde ich zwei Monate heute, allein, schaffen? Natürlich, der krönende Abschluss eines phantastischen Sabbafjahres ist etwas anderes als die Trauerpilgerreise nach einer anstrengenden und schweren Zeit. So würde ich z. B. heute das Angebot meines Freundes Henri - gutes Abendessen und Hotel -, das ich damals ohne zu zögern abgelehnt habe, freudigsten Herzens annehmen. Es stimmt schon, die Pilgerreise nach Santiago macht man nur einmal im Leben.
Einen Karelier kannst du nicht verlieren, weil er dich nicht verliert
Der Winter war Ajiz’ liebste Jahreszeit, was weiter nicht verwunderlich ist, stammen seine Vorfahren doch aus Karelien. Diese Region erstreckt sich von der finnischen Seenplatte bis zum Gebiet um den Lagoda-See (seit dem finnisch-russischen Krieg 1939/40 zu Russland gehörend). Die Karelier sind ein nomadisch lebendes Volk, ihre Sprache gehört - wie Finnisch, Estnisch und Ungarisch - zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe. Für die Jagd auf Großwild - Elch, Wildschwein, Luchs und Bär - züchten sie den karelischen Bärenhund, der wie der Samojede oder der Husky zur Familie der nordischen Spitze gehört. Seine Ausdauer, sein Mut, seine Selbständigkeit und sein exzellenter Spürsinn machen ihn zum hervorragenden Gefährten des Jägers. Die Jagd war nie meine Sache, aber die genannten Eigenschaften sind ja nicht nur dafür von Nutzen. Gerade bei den Schiabfahrten lernte ich sie schätzen: seine ungeheure Kondition, wenn er mir im Tiefschnee folgte, oder seinen Mut, sein sicheres Auge und seine Kletterfertigkeit, wenn er bei so mancher Bergtour vollkommen sicher und ohne jede Angst seinen eigenen Weg über die Felsen suchte, wo ich schon meine Hände zu Hilfe nehmen musste.
Bei unserer ersten gemeinsamen Schitour im Winter 1990/91 auf den Lüsener Fernerkogel passierte allerdings etwas, worüber ich heute zwar lache, was mich damals aber ärgerte und verwirrte und was ich - wieder einmal - erst viel später bei Ajiz verstand. Beim Aufstieg auf den 3300 m hohen Gletscher gab es keinerlei Probleme, Ajiz ging brav hinter mir in der Aufstiegsspur. (Auch das gefiel mir an ihm: Sinnlos Kraft zu vergeuden lag ihm nicht, er ging immer ökonomisch damit um.) Die Abfahrt jedoch gestaltete sich für mich mühsam: Meine Sicherheitsbindung ging schon beim geringsten Druck auf, ich stürzte bei jedem zweiten Schwung. Wir waren eine Gruppe von fünf Freunden und wie üblich in solchen Fällen wartete stets einer von ihnen, bis ich wieder in der Bindung war. Ajiz, der in der vollen Kraft seiner Jugend immer bei den Ersten der Gruppe mitlief, wartete ebenfalls auf mich, wenn er bemerkte, dass ich hintengeblieben war, oder wenn ich ihn rechtzeitig rief. Da an diesem wunderschönen Wintertag auch andere Gruppen unterwegs waren, herrschte an manchen Tiefschneehängen ein recht lebhaftes Treiben und zeitweise war es schwierig festzustellen, welcher Schifahrer zu welcher Gruppe gehörte. Ich war wieder einmal auf die Bindung fluchend zurückgeblieben, Paul wartete auf mich, als ich bemerkte, dass Ajiz fehlte. Weiter unten sah ich die anderen Freunde aus unserer Gruppe: „Habt ihr Ajiz gesehen?“
„Nein, ist er nicht bei dir?“, wurde zurückgebrüllt.
Ratlosigkeit machte sich breit und in mir kam - wieder einmal - leichte Panik auf. Bilder von Ajiz in einer Gletscherspalte oder zerschmettert am Fuß einer Felsenwand gingen mir durch den
Kopf- Meine Freunde beruhigten mich mit dem sehr logischen Hinweis, dass es hier erstens keine Gletscherspalten gäbe und zweitens weit und breit keine Felswand zu sehen wäre, von der Ajiz hätte hätte stürzen können.
„Aber wo ist er dann?“
Da erlöste mich Josefs Ruf: „Schau einmal ganz unten, fast schon beim Parkplatz!“
Tatsächlich! Da, weit unten, am Fuß des Hanges, sah ich einen kleinen schwarzen Punkt, der sich ziemlich rasch dem Parkplatz näherte, wo wir unsere Autos abgestellt hatten. Anscheinend hatte mich Ajiz wegen meines ständigen Zurückbleibens und der immer wechselnden Gruppenkonstellationen aus den Augen verloren und war mit einer anderen Gruppe mitgelaufen. Nachdem er mich oder ich ihn verloren hatte, war für ihn unser Auto der einzige feste Anhaltspunkt. Dorthin lief er eben, was nicht nur logisch, sondern sogar höchst intelligent war. Ich aber war nicht so intelligent und schimpfte ihn, anstatt ihn zu loben. Wie viel musste ich noch
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