Auch Santiago hatte einen Hund
freundlich zurück, und beim Weitergehen denke ich mir bedauernd, dass ich mich gerne mit der offensichtlich sympathischen Gruppe etwas unterhalten hätte. Nach fünf Stunden Marsch ohne Unterbrechung wollte ich aber endlich mein Mittagsziel erreichen und blieb deshalb nicht bei ihnen stehen. Doch kaum habe ich mich unter der Platane häuslich eingerichtet (unter ihren Wurzeln entspringt eine Quelle mit absolut reinem, klarem, frischem Wasser - phantastisch!), sehe ich sie mit Sack und Pack den Hügel herunterkommen, so als hätten sie meine Gedanken gelesen und beschlossen mir zu folgen. In Wirklichkeit sind sie auf der Flucht vor dem heftigen Wind auf dem Hügel und auf der Suche nach einem windstillen Plätzchen, das sie neben mir unter der Platane auch finden. Ebenso wie ich sind sie über das unverhoffte Wiedersehen erfreut (später erzählen sie mir, sie hätten sich überlegt, mich zum Essen einzuladen, aber ich sei zu schnell an ihnen vorbeigezogen) und so dauert es nicht lange, und wir sitzen wie alte Freunde am gemeinsamen Mittagstisch. Sie sind ehrenamtliche Betreuer von christlichen Jugendgruppen, eclaireurs, in der Region, die im Rahmen dieses Picknicks (wobei der Begriff Picknick angesichts der Vielzahl und Qualität der mitgebrachten und unter meiner tatkräftigen Mithilfe verzehrten Speisen die Realität nicht annähernd beschreibt) Jahresbilanz ihrer Arbeit ziehen und ihre Arbeit für das kommende Jahr planen. Der Kontakt mit diesen herzlichen und gastfreundlichen Menschen tut mir gut und ich ziehe ungern weiter. Als ich mich irgendwann doch verabschiede -Schicksal und Aufgabe des Pilgers -, bittet mich der Priester der Gruppe, noch kurz zu warten, er hätte etwas für mich. Dann zitiert er eine Stelle aus dem Lukasevangelium, die, so sagt er, haargenau zu mir passt; es ist die Stelle, wo Jesus die 72 Jünger aussendet (Lukas 10,2-7):
„Die Ernte ist groß, der Arbeiter sind es aber wenige. Bittet also den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Geht hin! Seht, ich sende euch wie Lämmer mitten unter die Wölfe. Nehmt weder Beutel noch Tasche noch Schuhe mit und grüßt niemand unterwegs. Kommt ihr in ein Haus, so sagt zuerst: Friede diesem Hause! Ist daselbst ein Kind des Friedens, so wird euer Friede auf ihm ruhen; wenn nicht, so wird er zu euch zurückkehren. In ebendiesem Hause bleibt, esset und trinket, was da ist; denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert.“
Die drei Stunden zum Gîte von MORTAGNE, meinem Etappenziel (ich geb nicht auf, bei einem Gîte muss es doch endlich klappen!) vergehen fast wie im Flug, so motiviert bin ich durch diese Entsendung. Und wirklich, der Segen hat gewirkt. Das Gîte ist nicht nur offen, ich werde auch gastfreundlich aufgenommen und habe es zudem noch ganz für mich allein. (Gleich werde ich erklären, warum mich das Alleinsein plötzlich so erfreut...) In diesem Abschnitt ist die Sèvre - seit NANTES meine ständige Begleiterin - bei Paddlern und Kajaksportlern sehr beliebt, die Paddelclubs führen für ihre Gäste Herbergen. Und diese, seit zwei Wochen das erste richtige Gîte, ist noch dazu sauber, gut ausgestattet, billig (4,50 Euro) - und leer. Das gibt heute ein Fest, ich fühle mich, als käme ich nach Hause! Zu meinem Entzücken entdecke ich in der Küche ein funktionierendes Radio, stelle sofort die Frequenz auf meinen französischen Lieblingssender France Musiques ein, und meine Freude steigert sich zur hellen Begeisterung, als ich höre, wie für den Abend die Live-Übertragung eines Opernkonzerts aus der Kathedrale von BEAUNE im Burgund angekündigt wird - Mozarts Zauberflöte, ich kann’s nicht fassen! Da bin ich gerne allein, weil ich mit Mozart ja nie allein bin. Der Abend wird ein Fest, glücklich sitze ich auf den Stufen des Hauses, während Mozart das Haus, mich und die laue Sommernacht mit seiner himmlischen Musik erfüllt. Erst um ein Uhr früh krieche ich in meinen Schlafsack. Das werde ich morgen spüren, ist mir momentan aber vollkommen egal.
Der Tag geht an Ute, mit der ich in genau einer Woche von POITIERS aufbrechen werde. Hoffentlich wird es während der vier gemeinsamen Tage nicht so schwierig mit den Unterkünften...
PS: Heute ist mir bewusst geworden, wie unermesslich schwierig im Mittelalter eine Pilgerfahrt nach Santiago und wie fast unmenschlich schwierig das freiwillige Exil und/oder Eremitendasein der irischen Wandermönche im Frühmittelalter gewesen sein muss. Was war vor zehn Jahren, als ich mit
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