Auch Santiago hatte einen Hund
lernen!
15
MONTAG, 5. JULI
MORTAGNE-SUR-SÈVRE - MAULÉON
Start um acht Uhr vierzig an einem strahlenden Morgen. Auf den letzten Kilometern gestern Abend hat es schon angefangen, jetzt spüre ich den Schmerz im linken Fuß deutlich. Kündigt sich da eine Blase an? Noch muss ich mich nicht beunruhigen, denn beim Gehen bin ich nicht beeinträchtigt, außerdem ist die heutige Etappe definitiv kürzer als die gestrige - und die Zauberflöte klingt immer noch in mir nach. Die Hochstimmung des Aufbruchs währt aber nicht lange und verzieht sich in dem Maße, wie düstere Wolken am Himmel aufziehen. Als sich die kürzere Etappe dann zudem als sehr anstrengend entpuppt - insgesamt sieben Mal teilweise steil und lang vom Ufer der Sèvre hinauf auf ein Plateau und wieder hinunter - und mich der Schmerz im linken Fuß humpeln lässt (es muss eine Blase sein), ist es um meine gute Laune endgültig geschehen. Total grantig und nass geschwitzt - es ist extrem schwül - humple ich mühsam nach SAINT-LAURENT-SUR-SÈVRE hinein, wo ich mir jene Therapie verschreibe, mit der ich in solchen Situationen die besten Erfahrungen gemacht habe: Ich kaufe mir eine Tageszeitung (schafft es die Welt draußen ohne mich?), setze mich in ein Café und bestelle einen großen café au lait mit einem frischen croissant. Dieser kleine Luxus (wie relativ ist doch dieser Begriff!) besänftigt mich auf der Stelle, und nach einer Stunde ziehe ich weiter. Vorher habe ich mir noch Blasenpflaster in der Apotheke besorgt, in der Mittagspause werde ich mich verarzten. An dem dafür vorgesehenen Platz habe ich schon zweimal mit Ajiz übernachtet - im Schutz einer Eiche, wie denn sonst-, und er erfüllt auch jetzt alle meine Erwartungen. Meine Laune hat sich zwar gebessert, aber eine eigenartige Grundstimmung bleibt, so eine Mischung zwischen körperlicher Mattigkeit, Trauer, Melancholie und Heimweh. Es wird schon das sein, worüber ich gestern Abend nachgedacht habe. Mozart hat es überdeckt, aber heute kommt es heraus. Wie soll es auch anders sein, ich bin ja auf einer selbstgewählten Trauerpilgerreise.
Kurz vor der Ankunft in MAULÉON erlebe ich Straßenstress am einzigen Abschnitt des bretonischen Jakobsweges, der für ein paar Kilometer auf einer Route Nationale - zudem mit starkem Schwerverkehr - verläuft. Bei jedem an mir vorbeirasenden Fernlaster (für einen Fußgänger an einer Nationale rast jedes Auto) muss ich meinen Hut festhalten, sonst droht ihn mir dessen Luftzug vom Kopf zu reißen. Der Anblick der zahlreichen Opfer des Fortschritts, die mit ihm - sprichwörtlich - nicht Schritt halten konnten (Hasen, Hunde und Katzen also), und der Ausblick auf das, was sich sonst am Straßenrand ansammelt, lässt mich nicht zum ersten Mal daran zweifeln, ob der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung ist. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, wenn das regelmäßige Abgehen von einigen Kilometern auf diesen National-(bei uns Bundes-)Straßen und dort das Einsammeln des Abfalls fester Bestandteil der Lehrpläne aller Schulen wäre. Ich weiß, aus Gründen der Sicherheit wird das nicht zu verwirklichen sein, schade. Denn den sicher pädagogisch auch sehr wertvollen Besuchen von Park- und Rastplätzen, Wanderwegen, Berggipfeln und Flussufern fehlt die Dimension des hautnahen Erlebens der wahnwitzigen Geschwindigkeit außerhalb des Autos, also aus der Perspektive des Langsamen, des Opfers.
Um die zu erwartende Qual abzukürzen, habe ich vorher ein Waldstück durchquert, wo auf einem Kilometer ein Weg parallel zur Nationale verläuft, der vor einem Jahr noch frei zugänglich war. In der Zwischenzeit hat der Waldbesitzer aber Stacheldraht- und Elektrozäune hochgezogen, deren Überwindung schwierig, kompliziert, manchmal folgenschwer (zerrissene Hosen) und einem Pilger auf jeden Fall nicht zumutbar ist. Außerdem sind Zäune als unmissverständliche Willenskundgebung ihres Besitzers zu interpretieren und zu respektieren. (Ich muss die Beschreibung dieses Abschnitts in meinem Buch entsprechend abändern, nehme ich mir vor.) Bei meiner Walddurchquerung schrecke ich eine ansehnliche Herde von jungen Wildschweinen (potentielle Opfer, s. o.) auf, die bei meinem Auftauchen voller Panik in alle Himmelsrichtungen davonstieben.
Dreifaltigkeitskirche in Mauléon
Als ich unversehrt im Städtchen Mauléon ankomme, führen mich meine ersten Schritte sofort zum Pfarrhaus, wo ich mich ohne Umschweife als Jakobspilger präsentiere und um einen
Weitere Kostenlose Bücher