Auch Santiago hatte einen Hund
Später erfahre ich, dass unsere kleine Straße teilweise auf der Trasse der alten Römerstraße nach BORDEAUX verläuft. Da sind wir ja doch wieder beinahe authentisch unterwegs. (Ist das wirklich so wichtig?) Für die Mittagsrast finden wir einen schönen Platz in einem Wäldchen am Rand der Autobahn. Der in Steinwurfweite von uns entfernt vorbeirasende Verkehr inspiriert uns zu besonders intensiven Reflexionen. Wir sind uns einig darin, dass der moderne Mensch zunehmend die „Erdung“ verliert, woraus sich für ihn immer mehr, immer häufiger und immer schmerzhafter Probleme physischer und psychischer Natur ergeben. Das „freiwillige Exil“ des Pilgerns (zu Fuß!) könnte da vielleicht wieder Richtung und Sinn in sein Leben bringen. Mir fällt das Lied aus den 50er-Jahren, Da Wüde mit seina Maschin’ von Helmut Qualtinger, ein, in dem es heißt: „I waß zwoa ned, wo i hinfoa, oba dafia bin i umso schnella duat.“ Schnell ist sie ja wirklich unterwegs, die Menschheit, aber wohin?
Kurz vor LUXÉ gibt’s noch ein Wegerlebnis der besonderen Art, das wir unserer doch nicht so genauen und aktuellen Karte verdanken. Unser Weg endet plötzlich am Rand eines riesigen Sonnenblumenfeldes. Umkehren und nach einer Alternative suchen ist uns zu riskant, da wir nicht abschätzen können, wie viel Zeit wir dafür brauchen - und die ist heute bemessen. Also durchpflügen wir das Feld, nur mit den Köpfen die Pflanzen überragend, und in der Hoffnung, dass der Weg am anderen Ende weitergeht. Er tut es. Wir erreichen LUXÉ so zeitig vor der Abfahrt des Zuges, dass wir unsere gesamte Zeitreserve, die wir sonst eventuell für die Umgehung des Sonnenblumenfeldes aufgebraucht hätten, in den Genuss eines frisch gezapften Bieres im Bahnhofsbistro investieren können. Ute ist streichfähig, seit der Mittagsrast haben wir doch ein zügiges Tempo gehalten, und das ohne Pause. Aber sie ist hochzufrieden, es geschafft zu haben, gleichzeitig heilfroh, nicht mehr weitergehen zu müssen, und schließlich voll Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Sohn Felix in PARIS. Ich bin übrigens auch sehr müde -die brutale Hitze der Nachmittage macht mir doch ziemlich zu schaffen - und schon ein bisschen traurig. Ab morgen bin ich wieder der einsame Wolf.
Die Fahrt im Zug erscheint mir wie ein surrealistischer Traum, die rasend schnell vorbeihuschende Landschaft kann nicht wirklich sein. Da muss jemand den Film mit zu hoher Geschwindigkeit durchlaufen lassen. Hoffentlich brennt der Motor nicht durch!
In ANGOULÊME bleibt uns noch Zeit für ein gemeinsames kurzes Abendessen im Bahnhofsrestaurant (gut, aber teuer), dann ist es so weit. Eine ganz feste Umarmung, gute Reise, danke für alles, viel Glück, ciao! Und wieder allein. In der Stadt, inmitten von unzähligen
Menschen, die wie in einem Ameisenhaufen scheinbar sinn- und ziellos umherhasten, spüre ich das Alleinsein noch deutlicher, das kenne ich schon. Ein hilfsbereiter Kunde in der Bäckerei, in der ich Brot für das Abendessen besorge und mich nach dem Weg zur Jugendherberge erkundige, sieht mir die Erschöpfung an und bringt mich in seinem Auto hin. Gott sei Dank, denn es ist sieben Uhr abends vorbei und immer noch heiß, und zu Fuß wäre ich fast noch eine Stunde unterwegs gewesen. Habe ich wieder geschwindelt? Ist mir jetzt egal, ich verzeihe mir.
Die Cevennen oder auf den Spuren von Robert Louis Stevenson
Da bisher alle „Eskapaden“ (engl, to escape - fliehen, entkommen) von Ajiz ohne ernsthafte Folgen geblieben waren, blieb ich weiterhin beim Prinzip „leinenlos“ Gewiss, Ängste, Sorgen und auch Ärger waren treue Begleiter unseres gemeinsamen Lebens geworden, hatten uns gleichzeitig aber auch enger zusammengeschweißt. Deshalb machte ich weiter, im Bewusstsein, dass noch nicht alles ausgestanden war, schließlich war Ajiz mit seinen viereinhalb Jahren erst in der Blüte seiner Mannesjahre angekommen. Das freie, ungebundene „Zigeunern“ in einer landschaftlich und historisch so reichen Region wie dem Languedoc-Roussillon, das sich vom Rhônetal bis zu den Pyrenäen erstreckt, das Kennenlernen und Entdecken ihrer versteckten Juwelen zu Fuß war meine Haupttätigkeit während des Sabbatjahres; davon hatte ich seit Jahren geträumt, und diese Lebensqualität sollte auch Ajiz haben dürfen.
Nördlich des Larzac beginnen die Cevennen, die ebenfalls zum Zentralmassiv gehören. Ihre zwei höchsten Erhebungen sind der Mont-Aigoual (ca. 1600 m) und der Mont-Lozere
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