Auch Santiago hatte einen Hund
prallen Sonne. Nach einem endlos scheinenden, extrem steilen Straßenstück hinauf in den Ort MOUTHIERS-SUR-BOÈME erleide ich beinahe einen Kollaps, mit letzter Kraft erreiche ich eine Autowerkstatt, wo ich mich im klimatisierten Verkaufsraum ohne zu fragen und wortlos auf einen Sessel plumpsen lasse. Wasser, Wasser, Wasser! Ein Wasserspender verliert an mich etwa eineinhalb Liter (die Feldflasche wird auch angefüllt) des kalten - oh Herrlichkeit! -köstlichen Nass, dann bin ich wieder so weit bei Kräften, dass ich mich ins Freie wage. Bis zum für die Mittagsrast angepeilten Wald (= Schatten = Siesta) geht es sanft, aber stetig bergauf, und als ich endlich den Rucksack abnehme und mich unter einem Baum ausbreite, bin ich der festen Überzeugung, dass ich es keinen Meter weiter geschafft hätte. An Schlaf ist nicht zu denken, dafür ist es zu schwül und sind die Fliegen zu aggressiv, aber nach drei Stunden, der längsten Mittagspause bisher, traue ich mir zu weiterzugehen. Es geht immer noch bergauf, bergab, ein Stück im Wald, dann wieder in der prallen Sonne, oft auf Asphalt. Alle 45 bis 60 Minuten lege ich eine kurze Pause ein und bitte die Menschen, die am Weg wohnen, um Wasser: einen freundlichen Tischler in seiner Werkstatt, mit seinem fast noch freundlicheren Hund; einen alten Herrn im ehemaligen Pfarrhaus der traumhaft schönen romanischen Kirche Saint-Cybard (ein heiliger Eremit, der im 5. Jahrhundert in der Gegend gelebt und Wunder gewirkt hat), der mir die Kirche auf sperrt; einen stolzen Hausbesitzer, der in einem prachtvollen früheren Gutshof (erbaut 1803, ehemals Anbaugebiet der Appelation Cognac) wohnt. Dort bekomme ich noch eine zusätzliche Eineinhalb-Liter-Flasche Wasser - damit kann ich der Nacht im Freien beruhigt entgegensehen. Wenn nicht bei diesem Wetter, wann soll ich dann im Freien übernachten? Außerdem bleibt mir gar keine Wahl, es gibt nichts im weiten Umkreis. In einem Wäldchen finde ich abseits der Straße bald einen guten Platz. Die erste Pilgersuppe seit beinahe einer Woche schmeckt wunderbar, die Kühle des Abends wirkt nach der Hitze des Tages wie eine Liebkosung auf meiner Haut, die Stille um mich erfüllt bald auch mein Inneres. Einerseits bin ich froh, dass Ute den heutigen Tag nicht mitmachen musste - die Hitze brachte mich einige Male an meine Grenzen -, andererseits fehlt mir die Weggefährtin schon ein bisschen. Aber die Rückkehr zum Solo-Pilgern habe ich erstaunlich reibungslos geschafft. Ist auch besser so, mir steht ja noch einiges bevor.
Saint-Cybard in Plessac
Die Pilgerreise
Wenn mein Sabbatjahr unser schönstes gemeinsames Jahr war, so war die zweimonatige Pilgerreise nach Santiago de Compostela dessen Höhepunkt - zumindest bis zu Ajiz’ schwerer Erkrankung nach vier Wochen unbeschwerten Pilgerlebens. Wenn noch heute, zehn Jahre später, diese Erfahrung zu den eindrücklichsten meines Lebens zählt, das wahrlich an Erlebnissen und Begegnungen nicht arm ist, so hat Ajiz einen wichtigen Anteil daran. Im Rückblick erkenne ich, dass ich während dieser zwei Monate meiner Berufung, Bestimmung, oder wie immer man es auch nennen will, so nahe wie nie zuvor gekommen bin, und dass ich in jener Zeit Ajiz die Möglichkeit gab, seine Natur in einem Maße auszuleben, wie es einem Hund aus dem hohen Norden in Gesellschaft des Menschen kaum jemals erlaubt ist.
Seit den 80er-Jahren wusste ich, dass ich nach dem Maya-Kalender am Tag des Weges geboren bin, und war der Meinung, dass mein bisheriges Leben genau unter diesem Zeichen - des Weges, des Unterwegsseins - gestanden war. Bewusst ausgelebt habe ich diese Bestimmung aber erst auf meiner Pilgerreise - und seither versuche ich, sie weiterhin aktiv zu leben. Ohne Ajiz, da bin ich mir ziemlich sicher, wäre dem nicht so. Was bedeutet, wenn ich nun diesen Gedanken weiterspinne, dass ich es letzten Endes Ajiz verdanke, meinen Weg gefunden zu haben. Und ist dies nicht schon immer die Aufgabe des Hundes gewesen, in all den Jahrtausenden, in denen er dem Menschen als Wächter, Freund, Begleiter und eben Führer gedient hat? Jetzt, beim Niederschreiben dieser Sätze, wird mir auch klar, warum ich die Entscheidung für einen Hund so lange hin und her gewälzt, überlegt, abgewogen und diskutiert habe: eben weil sie auch eine Lebensentscheidung war. Deshalb war - und ist - Ajiz für mich so wichtig.
Die Bedeutung unserer Pilgerreise nach Santiago schien auch Ajiz verstanden zu haben. Denn während der doch mehr als 1000
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