Auch Santiago hatte einen Hund
abwechselt, immer wieder unterbrochen durch macchiaartiges Unterholz und Eichenhaine mit jahrhundertealten Baumriesen.
Der Orden der Tempelritter unterhielt auf dem Larzac im 13. und 14. Jahrhundert mehrere große Niederlassungen - wichtige Verkehrswege durchzogen das Plateau schon vor der Römerzeit. Burgen, ganze befestigte Dörfer und Kirchen, wie man sie in dieser gottverlassenen Gegend niemals vermuten würde, zeugen heute noch vom Reichtum und von der Macht der Templer und ihrer Konkurrenten und Nachfolger, der Johanniter. In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die französische Armee ein begehrliches Auge auf das vermeintlich uninteressante, wirtschaftlich wertlose und nur mehr von ein paar Aussteigern und Schäfern bewohnte Plateau geworfen. Sie plante dort einen riesigen Truppenübungsplatz zu errichten und wollte dafür zigtausende Hektar Land enteignen. Dies rief vor allem im Süden Frankreichs einen veritablen Aufstand hervor, vergleichbar mit der Hainburg-Bewegung zehn Jahre später in Österreich. Auch das Ergebnis ist vergleichbar, das Projekt konnte durch den unerwartet starken, massiven und kreativen Widerstand (die Schäfer zogen mit ihren Herden bis auf die Champs-Elysees nach Paris!) verhindert werden. Heute noch ist der Larzac Symbol für erfolgreichen Widerstand „der von unten gegen die von oben“. Für mich ist das Wandern in dieser Weite und Stille - stunden-, oft tagelang - wie eine einzige Meditation. Doch leider sind wir Wanderer hier nicht die einzigen Besucher; da gibt es noch zwei Gruppen, von denen wir, Ajiz und ich, uns lieber fern halten. Die einen sind Dauerbewohner des Plateaus, sie haben die älteren Rechte; wir gehen uns halt aus dem Weg und haben bisher erfolgreich jede Konfrontation vermieden. Es sind die Wildschweine. Sie vermehren sich fleißig und stellen so ein begehrtes Ziel für die zweite Gruppe dar, die den Larzac in Schüben überrollt, seine Stille und seinen Frieden brutal störend. Das sind die Wilschweinjäger. Die Wildschweinjagd zählt in Südfrankreich zu den populärsten Freizeitbeschäftigungen, und an jenen Tagen, an denen die Jagd frei ist, überschwemmen ganze Regimenter von Möchtegern-Rambos in lächerlichen Pseudo-Militär-Outfits das Land. Mensch und Tier tun an solchen Tagen gut daran, entweder zu Hause zu bleiben oder sich möglichst zur Gänze in gelbe oder neonrote Kleidung zu hüllen.
An einem schönen, aber kalten Spätherbsttag waren Ajiz und ich wieder einmal in der Umgebung des Weilers Le Coulet auf dem Plateau unterwegs. Le Coulet ist ein typisches Beispiel für die Entwicklung der Region in den letzten 40 Jahren. Ursprünglich ein lebendiger, kleiner Weiler mit Kirche (plus Friedhof), Volksschule und Bäcker, leerte es sich nach dem Zweiten Weltkrieg langsam, aber stetig, um 20 Jahre später nur mehr eine einzige Bauernfamilie zu beherbergen. Keine Kinder - keine Schule; keine Gläubigen - kein Pfarrer; keine Esser - kein Bäcker. Im Zuge der Larzac-Bewegung in den 70er-Jahren erfolgte eine teilweise Wiederbesiedlung des Plateaus durch engagierte Bauern, Intellektuelle und Aussteiger. So kauften sich auch in Le Coulet zwei Brüder, Bernard und Dominic, die sich beide sehr in der Bewegung engagiert hatten, jeweils ein altes Bauernhaus, richteten es wieder her und verbrachten dort jede freie Minute ihrer Zeit. In den letzten Jahren seines Lebens hatte Dominic sogar seinen festen Wohnsitz in Le Coulet, das er von Herzen liebte - was ich sehr gut nachvollziehen kann. Seit ich 1974 zum ersten Mal nach Le Coulet gekommen bin, gehört es auch zu meinen Lieblingsplätzen, und wann immer ich es irgendwie einrichten kann, fahre ich dorthin - zum „Meditieren“.
An jenem Herbsttag stapften wir stundenlang über die Ebene, wir sahen und hörten keinen Menschen, und es war gut so. Wenn Wildschweine in der Nähe waren, bekamen wir das nicht mit, denn diese Tiere suchen sofort das Weite (negative Erfahrungen beschleunigen Lernprozesse ungemein!), wenn sie Menschen hören oder riechen. Beides können sie weit besser als der Mensch, so ist es praktisch unmöglich, ein Wildschwein zu überraschen. Allmählich ging der Tag zu Ende und Nebel senkte sich auf die im November noch kahler und karger wirkende Landschaft. Gerade als ich dachte, dass es für uns langsam an der Zeit wäre, zum Auto zurückzugehen, heimzufahren, daheim gemütlich am offenen Kamin Kastanien zu rösten und diese mit dem Vin de Pays von Saint-Jean zu genießen, fiel ein
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