Auch Santiago hatte einen Hund
Geschehens
3) Befragen von Passanten, falls vorhanden (in diesem Fall gab es keine)
4) Verständigung zuständiger Stellen - Tierheime, notfalls auch Jäger (sind ja keine Unmenschen), Polizei oder Gendarmerie (dieses Mal in Barre des Cevennes, 12 km entfernt)
5) Heimgehen, warten und hoffen
6) Bei Abgängigkeit über einen Tag hinaus: Wiederholung von 2 und 5, unter Umständen Erweiterung des Personenkreises von 4.
Der erlösende Anruf kam am dritten (!) Tag nach Ajiz’ Verschwinden vom Gendarmerieposten eines Dorfes, das in der genau entgegengesetzten Richtung von Barre des Cevennes und noch weiter vom Ort des Geschehens entfernt lag. Aber die Gendarmen hatten die umliegenden Posten aller Dörfer verständigt -seither sind sie weit in meinem Ansehen gestiegen. Deshalb wusste der Posten von Saint-Clement sofort, um welchen Hund es sich handelte, der plötzlich im Haus einer Familie aufgetaucht war und sich unter der Couch im Wohnzimmer verkrochen hatte. Ajiz hatte die Herzen der Familie im Sturm erobert und sie kämpften einen Tag lang gegen die Versuchung, den zugelaufenen Hund zu behalten. Dann siegten aber doch die Ehrlichkeit und das Mitleid mit dem Besitzer, also mir, der sicher vor Sorgen um seinen Hund verging. Stimmt.
Auf diese Weise wurden die Cevennen für mich - dank Ajiz -schrittweise mehr als ein Begriff für unberührte Natur. Sie bekamen ein menschliches Antlitz und ich habe dort einige Freunde gewonnen.
6. Kapitel
Biwak im Wald bei Saint-Martin
Hundstage
25
DONNERSTAG, 15. JULI
erster Ruhetag
FREITAG, 16. JULI
ANGOULÊME - ROUFFIAC
Schon beim Verlassen der Stadt (über eine Stunde auf der Ausfallstraße Richtung Süden!) spüre ich trotz der frühen Stunde, dass es heute heiß werden wird - logisch, wir nähern uns den „Hundstagen“, der heißesten Zeit des Jahres. Eigentlich war es auch gestern so heiß, aber da feierte ich meinen Ruhetag. Das hieß länger schlafen (die beiden Spanier, mit denen ich das Zimmer teilte, standen aber noch später auf), gemütlich frühstücken, Zeitung lesen, die Route der nächsten Tage planen, Stadtbummel. Da spürte ich die Hitze kaum, schon gar nicht in der Kühle der prächtigen romanischen (12. Jahrhundert) Kathedrale Saint-Pierre, die am höchsten Punkt der Stadt über der Charente thront. Im Lokalteil der Zeitung las ich, dass der Bürgermeister eingedenk der engen Verbindung seiner Stadt mit dem Jakobsweg - mehrere Hospize im Mittelalter, das Kloster La Couronne am südlichen Stadtrand als wichtige Station der Pilger, etc. - vor kurzem selbst zehn Tage auf dem Jakobsweg gepilgert sei. Er freue sich immer über den Besuch von Jakobspilgern. Diese Einladung beschloss ich auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und bat im Rathaus um einen Termin beim Bürgermeister. Zu meiner Verblüffung saß ich ihm dann wenige Minuten später tatsächlich gegenüber und wir unterhielten uns eine halbe Stunde lang angeregt über den Jakobsweg, Gott und die Welt.
Der freie Tag hat mir gut getan, doch das Alleinsein in einer großen Stadt ist nicht nach meinem Geschmack. Am Land, unterwegs, bin ich auch allein, aber nicht einsam. Dahin zieht es mich wieder.
In der zweiten Nacht in der Jugendherberge waren alle Betten im Zimmer belegt. Das muss schon Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal mein Schlafgemach mit wildfremden Menschen geteilt habe. Ich glaube, es war im April 1995 in der Pilgerherberge von Mellid, zwei Tage vor Santiago. Zu den zwei jungen Spaniern, die zum ersten Mal ohne ihre Eltern auf Reisen (Interrail macht’s möglich) und darob ganz aufgekratzt waren, hatten sich zwei Männer gesellt, die ich am besten „Menschen unterwegs“ nenne: Arbeitslose, Landstreicher, Pilger, keine Ahnung. Sie redeten mit niemandem, kein Wort, auch ich sprach sie nicht an, komisch. Denn obwohl wir sonst vielleicht nicht viel gemeinsam hatten, etwas Wichtiges verband uns auf jeden Fall: Für eine Zeit waren wir Teil der nicht sesshaften, der rastlosen Menschheit. Wohin wollten sie, warum waren sie unterwegs, wie sah ihr Leben aus, was waren ihre Träume? Ich wollte und werde es nie erfahren. Unsere Bahnen haben sich nur kurz gestreift, wir werden uns höchstwahrscheinlich nie mehr Wiedersehen.
Es ist wirklich brutal heiß, der heißeste Tag bisher. Nach Umgehen eines riesigen Steinbruchs komme ich zwar auf schöne Waldwege, aber schon bei der geringsten Steigung bricht mir der Schweiß aus allen Poren, noch schlimmer ist es in der
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